Als allgemeine Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips gewährleistet Art. 2 Abs. 1 [→ Allgemeines Persönlichkeitsrecht] in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG [→ Gewaltenteilung und Gesetzesbindung] ferner das Recht auf ein faires Verfahren. So darf sich der Richter nicht widersprüchlich verhalten, aus eigenen oder ihm zuzurechnenden Fehlern oder Versäumnissen keine Verfahrensnachteile für die Parteien ableiten und die allgemeine Pflicht zur Rücksichtnahme gegenüber den Verfahrensbeteiligten in ihrer konkreten Situation nicht missachten.1)
Im Hinblick auf die normative Ausgestaltung eines Gerichtsverfahrens liegt eine Verletzung von Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG allerdings erst dann vor, wenn eine Gesamtschau auf das Verfahrensrecht – auch in seiner Auslegung und Anwendung durch die Gerichte – ergibt, dass der Gesetzgeber rechtsstaatlich zwingende Folgerungen nicht gezogen oder rechtsstaatlich Unverzichtbares preisgegeben hat.2)
Dem Rechtsstaatsgebot lassen sich grundsätzlich keine detaillierten verfahrensrechtlichen Anforderungen für die Ausgestaltung des gerichtlichen Prozessrechts entnehmen, es sei denn, dass das rechtsstaatliche Maß an effektivem Rechtsschutz oder Justizgewährung nicht mehr gewahrt wäre3). Das gilt etwa mit Blick auf die Protokollierung einer mündlichen Verhandlung, deren Bedeutung nicht für alle Prozessarten gleich ist und von der Einbettung in die sonstigen Verfahrensregelungen abhängt. Effektiver Rechtsschutz verlangt ferner eine Begründung der Entscheidung, wenn durch das Fehlen der Begründung der Zugang zu einer in der jeweiligen Prozessordnung vorgesehenen weiteren Instanz verschlossen würde. Entscheidungen, die den Instanzenzug abschließen und bei denen kein ordentliches Rechtsmittel mehr gegeben ist, unterliegen nach deutschem Recht hingegen keiner aus dem Grundgesetz abzuleitenden Begründungspflicht4). Soweit es einer Begründung bedarf, muss diese in angemessener Zeit gegeben werden. Insoweit gilt die Pflicht zur Gewährung zeitnahen Rechtsschutzes für das gesamte Verfahren bis zum Eintritt der formellen Rechtskraft. Urteile, gegen die noch ein Rechtsmittel oder Rechtsbehelfe mit Suspensiveffekt statthaft sind, sind daher so rechtzeitig abzusetzen, dass dem Anspruch auf zeitnahen Rechtsschutz Genüge getan wird. Was dies konkret bedeutet, hängt von den Umständen des Einzelfalls ab5).6)
Ein Anspruch auf ein faires Verfahren ergibt sich auch aus Art. 6 Abs. 1 EMRK, dem sich – neben der Gewährleistung des Zugangs zu einem neutral und objektiv entscheidenden Gericht – verfahrensrechtliche Grundanforderungen entnehmen lassen. Die Ausgestaltung eines gerichtlichen Verfahrens muss die grundlegenden Elemente der Fairness aufweisen7). Dafür ist wesentlich, dass die Beteiligten an einem gerichtlichen Verfahren nicht zu reinen Objekten herabgestuft werden, sondern über angemessene Mitwirkungsrechte verfügen („Waffengleichheit“), wie zum Beispiel Rechte zur Stellungnahme oder zu eigenständigen Beweisangeboten8). Aus Art. 6 Abs. 1 EMRK ergibt sich auch ein Recht auf Akteneinsicht9). Schließlich hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte festgestellt, dass die Anforderungen an ein faires Verfahren im Sinne von Art. 6 Abs. 1 EMRK nur dann erfüllt sind, wenn es sich bei dem Recht, sich vor Gericht zu einem Beweismittel zu äußern, um eine echte Möglichkeit wirksamer Stellungnahme zu dem Beweismittel handelt. Eine gerichtliche Überprüfung dieser Frage sei insbesondere dann geboten, wenn das Beweismittel aus einem technischen Bereich stamme, in dem das Gericht nicht über Sachkenntnis verfüge, und geeignet sei, die Würdigung der Tatsachen durch das Gericht maßgeblich zu beeinflussen10).11)
Das Gericht hat nach Art. 6 EMRK Ausführungen oder Beweisangebote zur Kenntnis zu nehmen, zu prüfen und zu würdigen, muss aber nicht jeden Parteivortrag berücksichtigen, sondern nur auf die Hauptargumente des Vortrags eingehen12). Weitergehende Anforderungen an Hinweispflichten, die den Maßstab des Art. 103 Abs. 1 GG überschreiten, werden vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte nicht aufgestellt13). Das Gericht hat eine abschließende und hinreichend begründete Entscheidung zu treffen14). Das Gerichtsverfahren muss nach Art. 6 Abs. 1 EMRK eine angemessene Dauer aufweisen, was sich stets nach den Umständen des Einzelfalls richtet15).
Ein Urteil ist schriftlich zu begründen, da dies eine ordnungsgemäße Rechtspflege gewährleistet, Willkür verhindert und dazu beiträgt, das Vertrauen der Öffentlichkeit und der Betroffenen in die getroffene Entscheidung zu stärken.( (BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 08. November 2022 - 2 BvR 2480/10; m.V.a. EGMR, Cerovšek u.a. v. Slovenia, Urteil vom 7. März 2017, Nr. 68939/12 u.a., § 40; Grabenwarter, Verfahrensgarantien in der Verwaltungsgerichtsbarkeit, 1997, S. 665 ff))
Im Unionsrecht leitet sich das Recht auf ein faires gerichtliches Verfahren als allgemeiner Grundsatz aus der gemeinsamen Verfassungsüberlieferung der Mitgliedstaaten ab16) und hat in Art. 47 Abs. 2 GRCh eine entsprechende Verankerung erfahren17), die zumindest das Schutzniveau des Art. 6 Abs. 1 EMRK abdeckt18). Aus dem Recht auf ein faires Verfahren erwächst zunächst der Grundsatz der Waffengleichheit19). Parteien und Angeklagte müssen in dem gerichtlichen Verfahren angemessen und ausreichend Gelegenheit zur Stellungnahme haben und belastenden Vorwürfen zum Beispiel durch Beweisangebote entgegentreten können20). Des Weiteren ergibt sich daraus ein Anspruch auf rechtliches Gehör, der ebenfalls gewährleistet, dass Beteiligte eines gerichtlichen Verfahrens angehört werden und sich bezüglich belastender Beschwerdepunkte äußern können21). Das Gericht muss die Stellungnahmen zur Kenntnis nehmen und bei seiner Entscheidung – soweit urteilsrelevant – würdigen 22). Die Beteiligten müssen die tatsächlichen und rechtlichen Umstände kennen, die für den Ausgang des Verfahrens entscheidungserheblich sind23). Darüberhinausgehende Hinweispflichten fordert das Unionsrecht nicht.24)
Aus Art. 47 Abs. 2 GRCh leitet der Gerichtshof ferner das Recht auf eine angemessene Verfahrensdauer ab.25)
Jede gerichtliche Entscheidung ist schließlich mit Gründen zu versehen, damit der Beklagte die Gründe seiner Verurteilung verstehen und gegen eine solche Entscheidung auf zweckdienliche und wirksame Weise Rechtsmittel einlegen kann.26)
Mindestanforderungen an die Protokollierung von Gerichtsverhandlungen lassen sich nicht feststellen. Selbst nach den Verfahrensregelungen des Gerichtshofs ist nur die Abfassung eines Protokolls vorgesehen, ohne dass hierzu Details festgelegt wären.27)
Auch zahlreiche mitgliedstaatliche Verfassungsordnungen enthalten Anforderungen an das Gerichtsverfahren. Zu diesen gehören die Grundsätze der Fairness und der Waffengleichheit28). Häufig findet sich auch ein direkter Rückgriff auf Art. 6 Abs. 1 EMRK29), nicht zuletzt in Österreich, wo die Europäische Menschenrechtskonvention Verfassungsrang genießt30).31)
Diesen gemeineuropäischen Anforderungen hat die Ausgestaltung des Rechtsschutzes in zwischenstaatlichen Einrichtungen gemäß Art. 24 Abs. 1 GG Rechnung zu tragen. Um beurteilen zu können, ob diese auch mit Blick auf das Recht auf rechtliches Gehör und ein faires Verfahren den Mindeststandards eines wirkungsvollen Rechtsschutzes genügt, bedarf es einer Gesamtbetrachtung des Rechtsschutzsystems.32)