Ausnahmen und Beschränkungen

Art. 5 der Richtlinie 2001/29/EG regelt die Ausnahmen und Beschränkungen des Vervielfältigungsrechts und anderer Rechte.

Art. 5 (1) der Richtlinie 2001/29/EG → Vorübergehende Vervielfältigungshandlungen
Bezieht sich auf flüchtige oder begleitende Vervielfältigungshandlungen, die einen integralen Teil eines technischen Verfahrens darstellen und keine eigenständige wirtschaftliche Bedeutung haben.

Art. 5 (2) der Richtlinie 2001/29/EG → Ausnahmen für Vervielfältigungen
Erlaubt den Mitgliedstaaten, Ausnahmen oder Beschränkungen für das Vervielfältigungsrecht in bestimmten Fällen vorzusehen.

Art. 5 (3) der Richtlinie 2001/29/EG → Weitere Ausnahmen und Beschränkungen
Erlaubt den Mitgliedstaaten, weitere Ausnahmen oder Beschränkungen für die in den Artikeln 2 und 3 vorgesehenen Rechte vorzusehen.

Art. 5 (4) der Richtlinie 2001/29/EG → Ausnahmen für das Verbreitungsrecht
Erlaubt Ausnahmen oder Beschränkungen für das Verbreitungsrecht, wenn sie durch den Zweck der erlaubten Vervielfältigung gerechtfertigt sind.

Art. 5 (5) der Richtlinie 2001/29/EG → Anwendung der Ausnahmen und Beschränkungen
Beschreibt die Bedingungen, unter denen die Ausnahmen und Beschränkungen angewandt werden dürfen.

Der Umfang des Spielraums, über den die Mitgliedstaaten bei der Umsetzung einer in Art. 5 Abs. 2 oder 3 der Richtlinie 2001/29/EG genannten besonderen Ausnahme oder Beschränkung verfügen, ist nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union im Einzelfall insbesondere nach Maßgabe des Wortlauts dieser Bestimmung zu beurteilen.1)

Dieser Spielraum ist in mehrfacher Hinsicht begrenzt2):

Erstens dürfen die Mitgliedstaaten in ihren Rechtsvorschriften eine in Art. 5 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2001/29/EG vorgesehene Ausnahme oder Beschränkung nur insoweit vorsehen, als sie sämtliche Voraussetzungen dieser Bestimmung einhalten; dabei sind die Mitgliedstaaten auch verpflichtet, die allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts zu beachten, zu denen der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gehört, wonach die erlassenen Maßnahmen zur Erreichung des verfolgten Ziels geeignet sein müssen und nicht über das hierfür Erforderliche hinausgehen dürfen.3)

Zweitens dürfen die Mitgliedstaaten von ihrem Spielraum bei der Umsetzung der in Art. 5 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2001/29/EG vorgesehenen Ausnahmen und Beschränkungen nicht auf eine Weise Gebrauch machen, die die Erreichung der Ziele der Richtlinie 2001/29/EG gefährden würde, die nach deren Erwägungsgründen 1 und 9 in der Erreichung eines hohen Schutzniveaus für die Urheber und dem reibungslosen Funktionieren des Binnenmarkts bestehen; gleichwohl müssen die Mitgliedstaaten bei der Umsetzung auch die praktische Wirksamkeit der Ausnahmen und Beschränkungen wahren und ihre Zielsetzung beachten, um damit entsprechend den Ausführungen im 31. Erwägungsgrund dieser Richtlinie einen angemessenen Rechts- und Interessenausgleich zwischen den verschiedenen Kategorien von Rechtsinhabern sowie zwischen den verschiedenen Kategorien von Rechtsinhabern und Nutzern von Schutzgegenständen zu sichern.4)

Drittens wird der Spielraum der Mitgliedstaaten bei der Umsetzung der in Art. 5 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2001/29/EG genannten Ausnahmen und Beschränkungen durch Art. 5 Abs. 5 der Richtlinie 2001/29/EG begrenzt, der solche Ausnahmen oder Beschränkungen von einer dreifachen Voraussetzung abhängig macht, nämlich davon, dass sie nur in bestimmten Sonderfällen angewandt werden, dass sie die normale Verwertung des Werks nicht beeinträchtigen und dass sie die berechtigten Interessen des Rechtsinhabers nicht ungebührlich verletzen.5)

Viertens sind die Mitgliedstaaten dazu verpflichtet, sich bei der Umsetzung der in Art. 5 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2001/29/EG genannten Ausnahmen und Beschränkungen auf eine Auslegung dieser Bestimmungen zu stützen, die es erlaubt, einen angemessenen Ausgleich zwischen den verschiedenen durch die Rechtsordnung der Union geschützten Grundrechten sicherzustellen.6)

Für den angemessenen Ausgleich zwischen den verschiedenen Grundrechten, der bei der Auslegung [→ Richtlinienkonforme Auslegung] der zur Umsetzung der in Art. 5 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2001/29/EG genannten Ausnahmen und Beschränkungen geschaffenen Schrankenregelungen des Urheberrechtsgesetzes sicherzustellen ist, gelten nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union und des Bundesverfassungsgerichts folgende Grundsätze:7)

Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union muss zwar bei der Umsetzung einer Richtlinie durch die Mitgliedstaaten das in der EU-Grundrechtecharta vorgesehene grundrechtliche Schutzniveau unabhängig von einem Umsetzungsspielraum der Mitgliedstaaten erreicht werden. Soweit das nationale Recht aber nicht vollständig durch das Unionsrecht bestimmt ist, steht es den nationalen Behörden und Gerichten weiterhin frei, nationale Schutzstandards für die Grundrechte anzuwenden, sofern durch diese Anwendung weder das Schutzniveau der EU-Grundrechtecharta, wie sie vom Gerichtshof ausgelegt wird, noch der Vorrang, die Einheit und die Wirksamkeit des Unionsrechts beeinträchtigt werden.8)

Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts kommt es für die Frage, ob bei der Auslegung und Anwendung unionsrechtlich bestimmten innerstaatlichen Rechts die Grundrechte des Grundgesetzes oder die Grundrechte der EU-Grundrechtecharta maßgeblich sind, grundsätzlich darauf an, ob dieses Recht unionsrechtlich vollständig vereinheitlicht ist (dann sind in aller Regel nicht die Grundrechte des Grundgesetzes, sondern allein die Unionsgrundrechte maßgeblich) oder ob dieses Recht unionsrechtlich nicht vollständig determiniert ist (dann gilt primär der Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes). Die primäre Anwendung der Grundrechte des Grundgesetzes stützt sich auf die Annahme, dass das Unionsrecht dort, wo es den Mitgliedstaaten fachrechtliche Gestaltungsspielräume einräumt, regelmäßig nicht auf eine Einheitlichkeit des Grundrechtsschutzes zielt, sondern Grundrechtsvielfalt zulässt. Es greift dann die Vermutung, dass das Schutzniveau der EU-Grundrechtecharta durch die Anwendung der Grundrechte des Grundgesetzes mitgewährleistet ist. Eine Ausnahme von der Annahme grundrechtlicher Vielfalt im gestaltungsoffenen Fachrecht oder eine Widerlegung der Vermutung der Mitgewährleistung des Schutzniveaus der EU-Grundrechtecharta sind nur in Betracht zu ziehen, wenn hierfür konkrete und hinreichende Anhaltspunkte vorliegen.9)

Soweit im Einzelfall festgestellt wird, dass die Anwendung der verschiedenen Grundrechte im konkreten Kontext nicht zu unterschiedlichen Ergebnissen führt, sind die Fachgerichte - entsprechend dem allgemeinen Prozessrecht - nicht gehindert, schwierige Abgrenzungsfragen nach der Reichweite der unionsrechtlichen Vereinheitlichung dahinstehen zu lassen.10)

Die Grundrechte des Grundgesetzes und die Grundrechte der EU-Grundrechtecharta können außerhalb der in Art. 5 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2001/29/EG vorgesehenen Ausnahmen und Beschränkungen keine Abweichung von den ausschließlichen Rechten der Rechtsinhaber rechtfertigen.11)

Eine außerhalb der urheberrechtlichen Verwertungsbefugnisse und Schrankenbestimmungen angesiedelte allgemeine Interessenabwägung kommt nicht in Betracht. Angesichts der ausdrücklichen Regelungen der Richtlinien würde eine von der Auslegung und Anwendung der urheberrechtlichen Vorschriften losgelöste Grundrechtsabwägung durch die Gerichte in das vom Richtliniengeber im Rahmen seiner Gestaltungsfreiheit bereits allgemein geregelte Verhältnis von Urheberrecht und Schrankenregelung übergreifen.12)

siehe auch

Richtlinie 2001/29/EG → Urheberrechtsrichtlinie
Die Urheberrechtsrichtlinie 2001/29/EG dient der Harmonisierung des Urheberrechts in der Europäischen Union.

1)
BGH, Urteil vom 30. April 2020 - I ZR 115/16 - Metall auf Metall IV; m.V.a. EuGH, Urteil vom 29. Juli 2019 - C-516/17, GRUR 2019, 940 Rn. 25 = WRP 2019, 1162 - Spiegel Online; Urteil vom 29. Juli 2019 - C-469/17, GRUR 2019, 934 Rn. 40 = WRP 2019, 1170 - Funke Medien
2) , 7)
BGH, Urteil vom 30. April 2020 - I ZR 115/16 - Metall auf Metall IV
3)
BGH, Urteil vom 30. April 2020 - I ZR 115/16 - Metall auf Metall IV; m.V.a. EuGH, GRUR 2019, 940 Rn. 31 bis 34 - Spiegel Online; GRUR 2019, 934 Rn. 46 bis 49 - Funke Medien
4)
BGH, Urteil vom 30. April 2020 - I ZR 115/16 - Metall auf Metall IV; m.V.a. EuGH, GRUR 2019, 940 Rn. 35 f. - Spiegel Online; GRUR 2019, 934 Rn. 50 f. - Funke Medien
5)
BGH, Urteil vom 30. April 2020 - I ZR 115/16 - Metall auf Metall IV; m.V.a. EuGH, GRUR 2019, 940 Rn. 37 - Spiegel Online; GRUR 2019, 934 Rn. 52 - Funke Medien
6)
BGH, Urteil vom 30. April 2020 - I ZR 115/16 - Metall auf Metall IV; m.V.a. EuGH, GRUR 2019, 940 Rn. 38 - Spiegel Online; GRUR 2019, 934 Rn. 53 - Funke Medien
8)
BGH, Urteil vom 30. April 2020 - I ZR 115/16 - Metall auf Metall IV; m.V.a. EuGH, GRUR 2019, 940 Rn. 19 bis 23 - Spiegel Online; GRUR 2019, 934 Rn. 30 bis 33 - Funke Medien
9)
BGH, Urteil vom 30. April 2020 - I ZR 115/16 - Metall auf Metall IV; m.V.a. BVerfG, GRUR 2020, 74 Rn. 71 = WRP 2020, 39 - Recht auf Vergessen I
10)
BGH, Urteil vom 30. April 2020 - I ZR 115/16 - Metall auf Metall IV; m.V.a. BVerfG, GRUR 2020, 88 Rn. 81 - Recht auf Vergessen II
11)
BGH, Urteil vom 30. April 2020 - I ZR 115/16 - Metall auf Metall IV; m.V.a. vgl. EuGH, GRUR 2019, 940 Rn. 49 - Spiegel Online; GRUR 2019, 934 Rn. 64 - Funke Medien
12)
BGH, Urteil vom 30. April 2020 - I ZR 115/16 - Metall auf Metall IV; zum deutschen Urheberrecht vgl. BVerfG, GRUR 2012, 389 Rn. 14 mwN; BGH, GRUR 2017, 895 Rn. 51 - Metall auf Metall III, mwN