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Dr. Martin Meggle-Freund

wettbewerbsrecht:pharmakologische_wirkung

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Pharmakologische Wirkung

Für die Beurteilung der Frage, ob Produkte, die eine physiologisch wirksame Substanz enthalten, Funktionsarzneimittel im Sinne von Art. 1 Nr. 2 Buchst. b der Richtlinie 2001/83/EG [§ 2 AMG → Arzneimittelbegriff] sind, bedarf es nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union und des Senats einer sorgfältigen Prüfung des jeweiligen Einzelfalls, bei der neben den pharmakologischen, immunologischen oder metabolischen Eigenschaften des Produkts auch alle seine weiteren Merkmale wie seine Zusammensetzung, die Modalitäten seines Gebrauchs, der Umfang seiner Verbreitung, seine Bekanntheit bei den Verbrauchern und die Risiken zu berücksichtigen sind, die seine Verwendung mit sich bringen kann.1)

Zweckdienliche Anhaltspunkte zur Konkretisierung des Begriffs der „pharmakologischen Wirkung“ im Sinne von Art. 1 Nr. 2 Buchst. b der Richtlinie 2001/83/EG [→ Arzneimittel] können den unter Geltung der Richtlinie 93/42/EWG vom 14. Juni 1993 über Medizinprodukte von einer europäischen Expertengruppe aus Behörden- und Industrievertretern unter Federführung der Europäischen Kommission entwickelten Leitlinien zur Abgrenzung von Arzneimitteln und Medizinprodukten („Medical Devices: Guidance document - Borderline products, drug-delivery products and medical devices incorporating, as integral part, an ancillary medicinal substance or an ancillary human blood derivative“, MEDDEV 2.1/3 rev 3; nachfolgend: MEDDEV-Leitlinien) entnommen werden2), die als solche allerdings nicht rechtlich bindend sind3).4) In diesen Leitlinien, die zwischenzeitlich durch die Leitlinien „Guidance on borderline between medical devices and medicinal products under Regulation (EU) 2017/745 on medical devices“ (MDCG 2022-5) abgelöst worden sind, heißt es:5)

„Pharmacological means“ is understood as an interaction between the molecules of the substance in question and a cellular constituent, usually referred to as a receptor, which either results in a direct response, or which blocks the response to another agent. Although not a completely reliable criterion, the presence of a doseresponse correlation is indicative of a pharmacological effect.

Zu Deutsch:

„Pharmakologische Mittel“ meint eine Wechselwirkung (Interaktion) zwischen den Molekülen der in Frage stehenden Substanz und einem zellulären Bestandteil, gewöhnlich als Rezeptor bezeichnet, die entweder in einer direkten Reaktion (Antwort) resultiert oder die Reaktion (Antwort) auf ein anderes Agens blockiert. Das Vorhandensein einer Dosis-Wirkungs-Beziehung stellt dabei, obwohl kein vollständig vertrauenswürdiges Kriterium, einen Hinweis auf einen pharmakologischen Effekt dar.

Aus wissenschaftlicher Sicht ist unter Pharmakologie die Lehre von den Wechselwirkungen zwischen Arzneistoffen und Organismus zu verstehen, wobei die Pharmakologie sowohl die Heilwirkung als auch die Giftwirkung eines Stoffes betrifft.6)

Dieses wissenschaftliche Verständnis entspricht dem praktischen Verständnis in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs:

Die pharmakologischen Eigenschaften eines Erzeugnisses sind der Faktor, auf dessen Grundlage die mitgliedstaatlichen Behörde ausgehend von den Wirkungsmöglichkeiten dieses Erzeugnisses zu beurteilen haben, ob es im Sinne des Artikels 1 Nr. 2 Abs. 2 der Richtlinie 2001/83 dazu bestimmt ist, im oder am menschlichen Körper zur Erstellung einer ärztlichen Diagnose oder zur Wiederherstellung, Besserung oder Beeinflussung der menschlichen physiologischen Funktionen angewandt zu werden.7)

Eine pharmakologische Wirkung setzt die gezielte Steuerung von Körperfunktionen durch eine „arzneilich wirksame Substanz“ voraus.8)

Eine für die Bejahung einer pharmakologischen Wirkung eines Stoffes erforderliche Wechselwirkung zwischen seinen Molekülen und Körperzellen liegt auch dann vor, wenn die Moleküle eine ohne sie gegebene Einwirkung anderer Stoffe auf die Körperzellen verhindern.9)

In der höchstrichterlichen Rechtsprechung ist bislang nicht geklärt, nach welchen Kriterien pharmakologische und nicht-pharmakologische Mittel in Fällen abgegrenzt werden können, in denen die in Frage stehende Substanz - wie im Streitfall - von der Zielzelle nicht absorbiert wird, sondern nur eine temporäre Anbindung erfolgt.10)

Dem Gerichtshof der Europäischen Union wird zur Auslegung von Art. 1 Nr. 2 Buchst. b Fall 1 der Richtlinie 2001/83/EG vom 6. November 2001 zur Schaffung eines Gemeinschaftskodexes für Humanarzneimittel (ABl. L 311 vom 28. November 2001, S. 67) folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:11) Handelt es sich um eine pharmakologische Wirkung im Sinne von Art. 1 Nr. 2 Buchst. b Fall 1 der Richtlinie 2001/83/EG, wenn die in Frage stehende Substanz (hier: D-Mannose) durch eine im Wege von Wasserstoffbrücken vermittelte reversible Bindung an Bakterien verhindert, dass sich die Bakterien an menschliche Zellen (hier: die Blasenwand) binden?

Definition dieses Begriffs in der von den Dienststellen der Kommission in Zusammenarbeit mit den zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten erstellten Leitlinie zur Abgrenzung der Richtlinie 76/768/EWG über kosmetische Mittel von der Richtlinie 2001/83/EG und an den Grundsätzen orientiert, die der Gerichtshof der Europäischen Union in dieser Hinsicht in seinen Entscheidungen „Knoblauchkapseln“ (Urteil vom 15. November 2007 - C-319/05, Slg. 2007, I-9811 = GRUR 2008, 271), „Hecht-Pharma“ (Urteil vom 15. Januar 2009 - C-140/07, Slg. 2009, I-41 = GRUR 2009, 511), „BIOS Naturprodukte“ (Urteil vom 30. April 2009 - C-27/08, Slg. 2009, I-3785 = GRUR 2009, 790) sowie „Chemische Fabrik Kreussler“ (Urteil vom 6. September 2012 - C-308/11, GRUR 2012, 1167) aufgestellt hat

Nach dem Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union „Chemische Fabrik Kreussler“ erfordert die Beurteilung der Frage, ob Produkte, die eine physiologisch wirksame Substanz enthalten, Funktionsarzneimittel im Sinne von Art. 1 Nr. 2 Buchst. b der Richtlinie 2001/83/EG sind, eine sorgfältige Prüfung des jeweiligen Einzelfalls, bei der die nach dem jeweiligen Stand der Wissenschaft feststellbaren pharmakologischen, immunologischen oder metabolischen Eigenschaften des Produkts zu berücksichtigen sind (EuGH, GRUR 2012, 1167 Rn. 33 - Chemische Fabrik Kreussler, mwN). Neben den pharmakologischen, immunologischen oder metabolischen Eigenschaften des Produkts sind alle seine weiteren Merkmale wie seine Zusammensetzung, die Modalitäten seines Gebrauchs, der Umfang seiner Verbreitung, seine Bekanntheit bei den Verbrauchern und die Risiken zu berücksichtigen, die seine Verwendung mit sich bringen kann (EuGH, GRUR 2012, 1167 Rn. 34 - Chemische Fabrik Kreussler, mwN). Ein Produkt kann nur als Funktionsarzneimittel angesehen werden, wenn es aufgrund seiner Zusammensetzung und bei bestimmungsgemäßem Gebrauch physiologische Funktionen des Menschen in signifikanter Weise wiederherstellen, korrigieren oder beeinflussen kann (EuGH, GRUR 2012, 1167 Rn. 35 - Chemische Fabrik Kreussler, mwN).12)

siehe auch

§ 2 AMG → Arzneimittelbegriff

1)
BGH, Beschluss vom 14. September 2023 - I ZR 4/21 - Femannose; m.V.a. EuGH, Urteil vom 30. April 2009 - C-27/08 , Slg. 2009, I-3785 = GRUR 2009, 790 [juris Rn. 18] - BIOS Naturprodukte; EuGH, GRUR 2012, 1167 [juris Rn. 33 f.] - Chemische Fabrik Kreussler, mwN; BGH, PharmR 2016, 82 [juris Rn. 12] - Chlorhexidin
2)
vgl. BGH, Urteil vom 24. Juni 2010 - I ZR 166/08, GRUR 2010, 1026 [juris Rn. 17] = WRP 2010, 1393 - Photodynamische Therapie; Urteil vom 24. November 2010 - I ZR 204/09, PharmR 2011, 299 [juris Rn. 14] mwN; zu den Leitlinien zur Abgrenzung der Richtlinie 76/768/EWG über kosmetische Mittel von der Richtlinie 2001/83/EG über Arzneimittel vgl. EuGH, GRUR 2012, 1167 [juris Rn. 21 bis 27] - Chemische Fabrik Kreussler; BGH, PharmR 2016, 82 [juris Rn. 11] - Chlorhexidin, mwN
3)
vgl. EuGH, GRUR 2012, 1167 [juris Rn. 23] - Chemische Fabrik Kreussler
4) , 5) , 11)
BGH, Beschluss vom 14. September 2023 - I ZR 4/21 - Femannose
6)
OLG Köln, Entsch. v. 21.12.2007 - 6 U 64/06; m.V.a. vgl. Hunnius, Pharmazeutisches Wörterbuch, 9. Auflage 2004, „Pharmakologie“
7)
EuGH, Urteil vom 9.6.2005 in den verbundenen Rechtssachen C-211/03, C-299/03, C-316/03 bis C-318/03 - „Lactobact“
8)
OLG Stuttgart Urteil vom 14.2.2008, 2 U 81/076565; m.V.a. BVerwG, Urteil vom 25.07.2007, 3 C 22.06 = A & R 2008, 43 Tz. 32
9)
BGH, Urteil vom 5. Oktober 2010 - I ZR 90/08 - Mundspüllösung
10)
BGH, Beschluss vom 14. September 2023 - I ZR 4/21 - Femannose; m.V.a. BVerwG, ZMGR 2021, 380 [juris Rn. 11 f.]; PharmR 2021, 593 [juris Rn. 10 f.]
12)
BGH, Urt. v. 25. Juni 2015 - ZR 11/14
wettbewerbsrecht/pharmakologische_wirkung.txt · Zuletzt geändert: 2024/09/12 08:53 von 127.0.0.1