Zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsanwendung oder wenn sich eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung stellt, kann der Präsident des Europäischen Patentamts der Großen Beschwerdekammer eine Rechtsfrage vorlegen, wenn zwei Beschwerdekammern über diese Frage voneinander abweichende Entscheidungen getroffen haben.
Der Präsident des Europäischen Patentamts kann nach Artikel 112 (1) (b) EPÜ eine Vorlage veranlassen, insbesondere, wenn die Gesetzeslage für erstinstanzliche Verfahren unklar wird.
Wie es in Artikel 112 EPÜ eingangs heißt, dient die Befassung der Großen Beschwerdekammer unter anderem zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsanwendung. Dies gilt besonders für Vorlagen durch den Präsidenten des EPA nach Artikel 112 (1) (b) EPÜ, die ja voraussetzen, dass voneinander abweichende Entscheidungen ergangen sind. Wäre die Vorlagebefugnis des Präsidenten durch eine restriktive, auf der Organisationsstruktur basierende Auslegung des Begriffs „zwei Beschwerdekammern“ zu definieren, so wären Vorlagen betreffend die Juristische Beschwerdekammer, die eine einzige Organisationseinheit darstellt, unmöglich. Die Wirkung des Artikels 112 EPÜ würde dadurch ungebührlich eingeschränkt, denn es steht außer Frage, dass divergierende Entscheidungen auch im Zuständigkeitsbereich dieser Kammer vorkommen können.1)
Bei der Ausübung des Vorlagerechts kann sich der Präsident des EPA auf das ihm mit Artikel 112 (1) b) EPÜ eingeräumte Ermessen berufen, auch wenn sich seine Einschätzung der Notwendigkeit einer Vorlage nach relativ kurzer Zeit gewandelt hat.2)
Abweichende Entscheidungen, die ein und dieselbe Technische Beschwerdekammer in wechselnder Besetzung erlassen hat, können Anlass für eine zulässige Vorlage des Präsidenten des EPA sein, der die Große Beschwerdekammer nach Artikel 112 (1) b) EPÜ mit einer Rechtsfrage befasst.3)
Da der Wortlaut des Artikels 112 (1) b) EPÜ hinsichtlich der Bedeutung von „different decisions/voneinander abweichende Entscheidungen/décisions divergentes“ nicht eindeutig ist, muss er nach Artikel 31 des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge (WÜRV) im Lichte seines Zieles und Zweckes ausgelegt werden. Zweck des Vorlagerechts nach Artikel 112 (1) b) EPÜ ist es, innerhalb des europäischen Patentsystems Rechtseinheit herzustellen. In Anbetracht dieses Zwecks der Vorlagebefugnis des Präsidenten ist der englische Begriff „different decisions“ restriktiv im Sinne von „divergierende Entscheidungen“ zu verstehen.4)
Der Begriff der Rechtsfortbildung ist ein weiterer Aspekt, den es bei der Auslegung des Begriffs der „voneinander abweichenden Entscheidungen“ in Artikel 112 (1) b) EPÜ sorgfältig zu prüfen gilt. Rechtsfortbildung ist eine unverzichtbare Aufgabe der Rechtsanwendung, gleich, welcher Auslegungsmethode man sich bedient, und deshalb jeder richterlichen Tätigkeit immanent. Rechtsfortbildung als solche darf deshalb noch nicht zum Anlass einer Vorlage genommen werden, eben weil auf juristischem und/oder technischem Neuland die Entwicklung der Rechtsprechung nicht immer geradlinig verläuft und frühere Ansätze verworfen oder modifiziert werden.5)
Rechtsprechung wird nicht vom Ergebnis, sondern von der Begründung geprägt. Die Große Beschwerdekammer kann daher bei der Prüfung, ob zwei Entscheidungen die Erfordernisse des Artikels 112 (1) b) EPÜ erfüllen, auch obiter dicta berücksichtigen.6)
Artikel 112 EPÜ → Vorlage an die Großen Beschwerdekammer
Beschreibt die Bedingungen, unter denen die Große Beschwerdekammer mit einer Rechtsfrage befasst wird.