Gebot der grundrechtskonformen Auslegung der Urheberrechtsrichtlinie

Bei der Auslegung und Anwendung der hier in Rede stehenden Bestimmungen der Richtlinie 2001/29/EG und des ihrer Umsetzung dienenden nationalen Rechts sind nach Art. 51 Abs. 1 Satz 1 EU-Grundrechtecharta die dort aufgeführten Grundrechte zu beachten.1)

Daher haben die Gerichte bei der Auslegung und Anwendung der Verwertungsbefugnisse der Urheber und der Schrankenbestimmungen die in der Richtlinie zum Ausdruck kommende Interessenabwägung in einer Weise nachzuvollziehen, die den durch Art. 17 Abs. 2 EU-Grundrechtecharta verbrieften Schutz des geistigen Eigentums des Urhebers ebenso wie etwaige damit konkurrierende Grundrechtspositionen der Nutzer beachtet und im Wege einer Abwägung in ein angemessenes Gleichgewicht bringt.2)

Dabei kann beispielsweise ein gesteigertes öffentliches Interesse an der öffentlichen Zugänglichmachung eines geschützten Werkes unter Umständen schon bei der Auslegung der dem Urheber zustehenden Befugnisse, in jedem Fall aber bei der Auslegung der Schrankenbestimmungen berücksichtigt werden und im Einzelfall dazu führen, dass eine enge, am Gesetzeswortlaut orientierte Auslegung einer großzügigeren, dem Informationsinteresse der Allgemeinheit genügenden Interpretation weichen muss.3)

Dagegen kommt eine außerhalb der urheberrechtlichen Verwertungsbefugnisse und Schrankenbestimmungen angesiedelte allgemeine Interessenabwägung aus Sicht des Senats nicht in Betracht. Angesichts der ausdrücklichen Regelung der Richtlinie würde eine von der Auslegung und Anwendung der urheberrechtlichen Vorschriften losgelöste Grundrechtsabwägung durch die Gerichte in das vom Richtliniengeber im Rahmen seiner Gestaltungsfreiheit bereits allgemein geregelte Verhältnis von Urheberrecht und Schrankenregelung übergreifen.4)

In diesem Fall kommt es für die Auslegung und Anwendung der innerstaatlichen Rechtsvorschriften ferner nicht auf die Gewährleistungen der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) an. Die Gewährleistungen der EMRK, der im nationalen Recht der Rang von einfachem Bundesrecht zukommt, und die Rechtsprechung des EGMR dienen zwar auf der Ebene des nationalen Verfassungsrechts als Auslegungshilfe für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite der Grundrechte des Grundgesetzes.5)

Richtlinien der Europäischen Union sind allein anhand der durch die EU-Grundrechtecharta garantierten Grundrechte auszulegen, da die EMRK, solange die Union ihr nicht beigetreten ist, kein Rechtsinstrument darstellt, das förmlich in die Unionsrechtsordnung übernommen wurde.6)

siehe auch

Richtlinie 2001/29/EG → Urheberrechtsrichtlinie

1)
BGH, Beschluss vom 1. Juni 2017 - I ZR 139/15 - Afghanistan Papiere
2)
BGH, Beschluss vom 1. Juni 2017 - I ZR 139/15 - Afghanistan Papiere; zum deutschen Urheberrecht vgl. BGHZ 154, 260, 265 - Gies-Adler; BVerfG, Beschluss vom 19. Juli 2011 - 1 BvR 1916/09, BVerfGE 129, 78, 101 f., mwN; BVerfG, GRUR 2016, 690 Rn. 122; vgl. auch EuGH, Urteil vom 29. Januar 2008 - C-275/06, Slg. 2008, I-271 = GRUR 2008, 241 Rn. 68 - Promusicae; Urteil vom 27. März 2014 - C-314/12, GRUR 2014, 468 Rn. 46 = WRP 2014, 540 - UPC Telekabel
3)
BGH, Beschluss vom 1. Juni 2017 - I ZR 139/15 - Afghanistan Papiere; m.V.a. BGHZ 150, 5, 8 - Verhüllter Reichstag; BGHZ 154, 260, 265 - Gies-Adler
4)
BGH, Beschluss vom 1. Juni 2017 - I ZR 139/15 - Afghanistan Papiere; zum deutschen Urheberrecht vgl. BGHZ 154, 260, 266 f. - Gies-Adler; BVerfG, Kammerbeschluss vom 17. November 2011 - 1 BvR 1145/11, GRUR 2012, 389 Rn. 14 mwN
5)
BGH, Beschluss vom 1. Juni 2017 - I ZR 139/15 - Afghanistan Papiere; m.V.a. BVerfG, Beschluss vom 26. Februar 2008 - 1 BvR 1602/07, 1 BvR 1606/07 und 1 BvR 1626/07, BVerfGE 120, 180, 200 f., mwN
6)
BGH, Beschluss vom 1. Juni 2017 - I ZR 139/15 - Afghanistan Papiere; m.V.a. EuGH, Urteil vom 26. Februar 2013 - C-617/10, NJW 2013, 1415 Rn. 44 - Åkerberg Fransson; Urteil vom 15. Februar 2016 - C-601/15, NVwZ 2016, 1789 Rn. 45 bis 48; Urteil vom 21. Dezember 2016 - C-203/15 und C-698/15, GRUR Int. 2017, 165 Rn. 127 bis 129; Urteil vom 5. April 2017 - C-217/15 und C-350/15, juris Rn. 15, jeweils mwN