Chemische Strukturformel

Eine chemische Strukturformel ist eine Darstellung, die die spezifische Anordnung der Atome in einem Molekül und die chemischen Bindungen zwischen diesen Atomen zeigt. Sie gibt Informationen über die chemische Zusammensetzung und die Struktur eines chemischen Stoffes.

Wird Schutz für ein Erzeugnis begehrt, ist der Anmelder grundsätzlich gehalten, die Sache durch körperliche Merkmale zu umschreiben. Geht es um den Schutz eines chemischen Stoffes, kann dieser etwa durch seine wissenschaftliche Bezeich-nung oder seine Strukturformel bezeichnet werden. Die Kennzeichnung kann jedoch auch auf andere Weise erfolgen, wenn eine Erfassung der offenbarten Lehre anders nicht möglich oder nicht praktikabel ist.1)

Mit der Offenbarung einer chemischen Strukturformel sind die unter diese Formel fallenden Einzelverbindungen grundsätzlich noch nicht offenbart.2)

Maßgeblich ist vielmehr, ob die konkrete Verbindung offenbart wird. Dazu bedarf es Angaben, die den Fachmann ohne weiteres in die Lage versetzen, die eben diese chemische Verbindung betreffende Erfindung auszuführen, d.h. den betreffenden Stoff in die Hand zu bekommen.3)

Hierbei darf, wiederum nicht anders als bei Vorrichtungspatenten, die Fähigkeit des Fachmanns, mit Hilfe bekannter Verfahren und seines sonstigen Fachwissens eine mehr oder weniger große Anzahl von Einzelverbindungen herzustellen, die unter eine offenbarte Strukturformel fallen, nicht mit der Offenbarung dieser Einzelverbindungen gleichgesetzt werden.4)

Vielmehr stellen die Einzelverbindungen, jedenfalls regelmäßig, Nutzanwendungen der technischen Information dar, die dem Fachmann durch die Offenbarung der Strukturformel oder sonst einer allgemeineren Formel gegeben wird. Durch deren Mitteilung sind die darunter fallenden einzelnen Verbindungen als solche nicht offenbart; um sie dem Fachmann im Sinne der Neuheitsprüfung „in die Hand zu geben“, bedarf es in der Regel weitergehender Informationen insbesondere zu ihrer Individualisierung.5)

Soweit der noch zum Patentgesetz 1968 ergangenen Entscheidung „Fluoran“, in der der Senat sich im Rechtsbeschwerdeverfahren an die Feststellung des Patentgerichts gebunden gesehen hat, dem Fachmann seien durch eine allgemeine Formel fast 2000 unter die betreffende Formel fallende Einzelverbindungen als herstellbar offenbart, etwas anderes zu entnehmen sein sollte, wird daran für das geltende Recht nicht festgehalten. Als offenbart kann eine nicht ausdrücklich genannte Einzelverbindung vielmehr nur dann gelten, wenn der Fachmann sie im vorstehend ausgeführten Sinne „mitliest“, etwa weil sie ihm als die übliche Verwirklichungsform der genannten allgemeinen Formel geläufig ist und sich ihm daher sofort als jedenfalls auch gemeint aufdrängt, wenn er die allgemeine Formel liest.6)

Der X. Senat des BGH sieht sich mit dieser allgemeinen Beurteilung des Offenbarungsgehalts chemischer Formeln im Wesentlichen in Einklang mit der - auch vom High Court für England und Wales (Floyd J.) in dem das Streitpatent betreffenden Nichtigkeitsverfahren zugrunde gelegten ([2008] EWHC 2345 (Pat)) - Rechtsprechung der Beschwerdekammern des Europäischen Patentamts, nach der nur solche technische Lehren neuheitsschädlich sind, die einen Stoff als zwangsläufiges Ergebnis eines vorbeschriebenen Verfahrens oder in spezifischer, d.h. individualisierter, Form offenbaren.7)

Die Offenbarung von über 100 Wirkstoffen, die allein oder in Form eines pharmazeutisch verträglichen Salzes mit zahlreichen in Betracht kommenden Salzbildnern als zur Behandlung von Krebs geeignet bezeichnet werden, reicht für die unmittelbare und eindeutige Offenbarung eines bestimmten Salzes eines einzelnen Wirkstoffs in einer zur oralen Verabreichung geeigneten Form nicht aus. 8)

siehe auch

Chemischer Stoff
Eine Substanz, die durch chemische Prozesse hergestellt oder verändert wird. Chemische Stoffe können sowohl einfache chemische Elemente als auch komplexe Verbindungen sein.

1)
BGH, Beschluss vom 11. September 2013 - X ZB 8/12 - Dipeptidyl-Peptidase-Inhibitoren
2)
BGH, Urt. v. 16. Dezember 2008 - X ZR 89/07 - Olanzapin; Fortführung von BGHZ 103, 150 - Fluoran; Aufhebung von BPatG, Entsch. v. 4. Juni 2007 - 3 Ni 21/04
3) , 5) , 6)
BGH, Urt. v. 16. Dezember 2008 - X ZR 89/07 - Olanzapin
4)
BGH, Urt. v. 16. Dezember 2008 - X ZR 89/07 - Olanzapin; m.V.a. BGH, Urt. v. 30.9.1999 - X ZR 168/96, GRUR 2000, 296, 297 - Schmierfettzusammensetzung
7)
BGH, Urt. v. 16. Dezember 2008 - X ZR 89/07 - Olanzapin; w.V.a. Amtsbl. 1982, 296 - Diastereomere/BAYER; Amtsbl. 1984, 401 - Spiroverbindungen/CIBA GEIGY; Amtsbl. 1988, 381 - Xanthines/DRACO; Amtsbl. 1990, 195 - Enantiomere/HOECHST; Entscheidung vom 19.2.2003 - T 940/98 - Diastereomere des 3-Cephem-4-carbonsäure-1-(isopropoxycarbonyloxy)ethylesters/HOECHST
8)
BGH, Urteil vom 28. November 2023 - X ZR 83/21 - Sorafenib-Tosylat