Voraussetzungen für das Prioritätsrecht

Artikel 87 (1) EPÜ des Europäischen Patentübereinkommens (EPÜ) beschreibt die Voraussetzungen, unter denen ein Prioritätsrecht besteht.

Artikel 87 (1) EPÜ

Jedermann, der in einem oder mit Wirkung für a) einen Vertragsstaat der Pariser Verbandsübereinkunft zum Schutz des gewerblichen Eigentums oder b) ein Mitglied der Welthandelsorganisation eine Anmeldung für ein Patent, ein Gebrauchsmuster oder ein Gebrauchszertifikat vorschriftsmäßig eingereicht hat, oder sein Rechtsnachfolger genießt für die Anmeldung derselben Erfindung zum europäischen Patent während einer Frist von zwölf Monaten nach dem Anmeldetag der ersten Anmeldung ein Prioritätsrecht.

Bei Anmeldung eines europäischen Patents kann gemäß Art. 87 Abs. 1 EPÜ die Priorität einer vorangegangenen Anmeldung in Anspruch genommen werden, wenn diese dieselbe Erfindung betrifft.

Diese Voraussetzung ist nach der Rechtsprechung des Senats erfüllt, wenn die mit der späteren Anmeldung beanspruchte Merkmalskombination in der früheren Anmeldung in ihrer Gesamtheit als zu der angemeldeten Erfindung gehörend offenbart ist.1)

Der dafür maßgebliche Offenbarungsgehalt der ersten Anmeldung ist nicht auf die darin formulierten Ansprüche beschränkt; er ist vielmehr aus der Gesamtheit der Anmeldeunterlagen zu ermitteln.2)

Für die Beurteilung der identischen Offenbarung gelten die Prinzipien der Neuheitsprüfung. Danach ist erforderlich, dass die im Anspruch bezeichnete technische Lehre der Voranmeldung unmittelbar und eindeutig als mögliche Ausführungsform der Erfindung zu entnehmen ist.3)

Für die Beurteilung der identischen Offenbarung gelten die Prinzipien der Neuheitsprüfung. Danach ist erforderlich, dass die im Anspruch bezeichnete technische Lehre der Voranmeldung unmittelbar und eindeutig als mögliche Ausführungsform der Erfindung zu entnehmen ist.4)

Der Gegenstand der beanspruchten Erfindung muss im Prioritätsdokument identisch offenbart sein; es muss sich um dieselbe Erfindung handeln.5).

Dabei ist die Offenbarung des Gegenstands der ersten Anmeldung nicht auf die dort formulierten Ansprüche beschränkt, vielmehr ist dieser aus der Gesamtheit der Anmeldeunterlagen zu ermitteln.6)

Nach der ständigen Rechtsprechung des BGH ist danach erforderlich, dass der Fachmann die im Anspruch bezeichnete technische Lehre den Ursprungsunterlagen „unmittelbar und eindeutig“7) als mögliche Ausführungsform der Erfindung entnehmen kann.8)

Zu ermitteln ist mithin, was der Fachmann der Vorveröffentlichung als den Inhalt der gegebenen allgemeinen Lehre entnimmt.9)

Maßgeblich ist dabei das Verständnis des Fachmanns zum Zeitpunkt der Einreichung der prioritätsbeanspruchenden Patentanmeldung.10)

Offenbart kann auch dasjenige sein, was im Patentanspruch und in der Beschreibung der Voranmeldung nicht ausdrücklich erwähnt ist, aus der Sicht des Fachmanns nach seinem allgemeinen Fachwissen jedoch für die Ausführung der unter Schutz gestellten Lehre selbstverständlich ist und deshalb keiner besonderen Offenbarung bedarf, sondern „mitgelesen” wird.11)

Die Einbeziehung von Selbstverständlichem erlaubt jedoch keine Ergänzung der Offenbarung durch das Fachwissen, sondern dient lediglich der vollständigen Ermittlung des Sinngehalts, d.h. derjenigen technischen Information, die der fachkundige Leser der Quelle vor dem Hintergrund seines Fachwissens entnimmt.12)

Die Inanspruchnahme eines Prioritätsrechts ist nicht wirksam, wenn der Gegenstand der späteren Anmeldung aus dem Inhalt der früheren Anmeldung nur aufgrund eigenständiger Überlegungen des Fachmanns hergeleitet werden kann. Hierbei ist unerheblich, ob es naheliegend war, solche Überlegungen anzustellen.13)

Für die Berechtigung zur Inanspruchnahme eines Prioritätsrechts bei der Anmeldung eines europäischen Patents spricht eine widerlegbare Vermutung 14).

Die sich aus dem Europäischen Patentübereinkommen ergebende Vermutung der rechtmäßigen Inanspruchnahme kann nicht durch Geltendmachung spekulativer Zweifel widerlegt werden. Vielmehr müssen konkrete Umstände aufgezeigt werden, die ernstliche Zweifel an der Berechtigung des späteren Anmelders begründen 15). 16)

Erfordernis einer unmittelbaren und eindeutigen Offenbarung muss dabei in einer Weise angewendet werden, die berücksichtigt, dass die Ermittlung dessen, was dem Fachmann als Erfindung und was als Ausführungsbeispiel der Erfindung offenbart wird, wertenden Charakter hat, und eine unangemessene Beschränkung des Anmelders bei der Ausschöpfung des Offenbarungsgehalts der Voranmeldung vermeidet. Insoweit ist zugrunde zu legen, dass das Interesse des Anmelders regelmäßig erkennbar darauf gerichtet ist, möglichst breiten Schutz zu er-langen, also die Erfindung in möglichst allgemeiner Weise vorzustellen und nicht auf aufgezeigte Anwendungsbeispiele zu beschränken. Soweit in der Anmeldung bereits Ansprüche formuliert sind, haben diese vorläufigen Charakter. Erst im Verlauf des sich anschließenden Prüfungsverfahrens ist herauszuarbeiten, was unter Berücksichtigung des Standes der Technik schutzfähig ist und für welche Ansprüche der Anmelder Schutz begehrt. Erst mit der Erteilung des Patents mit bestimmten Ansprüchen erfolgt eine endgültige Festlegung des Schutzgegenstands.17)

Dieser Gesichtspunkt liegt der Rechtsprechung des BGH zugrunde, wonach bei der Ausschöpfung des Offenbarungsgehalts auch Verallgemeinerungen ursprungsoffenbarter Ausführungsbeispiele zugelassen werden. Danach ist ein „breit“ formulierter Anspruch unter dem Gesichtspunkt der unzulässigen Erweiterung jedenfalls dann unbedenklich, wenn sich ein in der Anmeldung beschriebenes Ausführungsbeispiel der Erfindung für den Fachmann als Ausgestaltung der im Anspruch umschriebenen allgemeineren technischen Lehre darstellt und diese Lehre in der beanspruchten Allgemeinheit für ihn bereits der Anmeldung - sei es in Gestalt eines in der Anmeldung formulierten Anspruchs, sei es nach dem Gesamtzusammenhang der Unterlagen - als zu der angemeldeten Erfindung gehörend entnehmbar ist.18)

Solche Verallgemeinerungen sind vornehmlich dann zugelassen worden, wenn von mehreren Merkmalen eines Ausführungsbeispiels, die zusammengenommen, aber auch für sich betrachtet dem erfindungsgemäßen Erfolg förderlich sind, nur eines oder nur einzelne in den Anspruch aufgenommen worden sind.19)

Nach vergleichbaren Maßgaben ist die Prüfung vorzunehmen, ob der Gegenstand der Erfindung im Prioritätsdokument identisch offenbart ist. Die Priorität einer Voranmeldung kann in Anspruch genommen werden, wenn sich die dort an-hand eines Ausführungsbeispiels oder in sonstiger Weise beschriebenen Anweisungen für den Fachmann als Ausgestaltung der in der Nachanmeldung umschriebenen allgemeineren technischen Lehre darstellen und diese Lehre in der in der Nachanmeldung offenbarten Allgemeinheit bereits der Voranmeldung als zu der angemeldeten Erfindung gehörend entnehmbar ist.20)

Nach herrschender Meinung verbraucht sich das Prioritätsrecht nicht. → Verbrauch des Prioritätsrechts

Die Priorität einer früheren Anmeldung kann auch dann in Anspruch genommen werden, wenn die spätere Anmeldung ein zusätzliches Ausführungsbeispiel enthält, bei dem zwar einzelne Begriffe des Patentanspruchs in abweichendem Sinne verwendet werden, das aber auch nach dem ursprünglichen Begriffsverständnis unter den Patentanspruch fällt.21)

Dies gilt auch dann, wenn das zusätzliche Ausführungsbeispiel weitere, nicht im Patentanspruch vorgesehene Funktionen aufweist, die in der früheren Anmeldung nicht offenbart sind.22)

Rechtsinhaber

Die Priorität einer nationalen Anmeldung kann nach Art. 87 Abs. 1 EPÜ von dem personenverschiedenen Anmelder einer europäischen Nachanmeldung in Anspruch genommen werden, wenn ihm das Recht zur Inanspruchnahme der Priorität rechtzeitig - das heißt vor Einreichung der Nachanmeldung - und wirksam übertragen worden ist.23)

Damit eine beanspruchte Priorität gemäß Artikel 87 (1) EPÜ 1973 wirksam ist, muss der Anmelder einer Nachanmeldung, der die Priorität einer früheren Anmeldung (Prioritätsanmeldung) beansprucht und nicht die Person ist, die die Prioritätsanmeldung eingereicht hat, bei Einreichung der Nachanmeldung der Rechtsnachfolger dieser Person in Bezug auf die Prioritätsanmeldung oder das Recht auf Inanspruchnahme der Priorität sein. Eine Rechtsnachfolge, die erst nach dem Tag der Einreichung der Nachanmeldung eintritt, reicht nicht aus, um die Erfordernisse des Artikels 87 (1) EPÜ 1973 zu erfüllen.24)

Die vertragliche Vereinbarung zwischen dem Anmelder der Prioritätsanmeldung und dem Anmelder der Nachanmeldung, wonach (nur) das wirtschaftliche Eigentum („economische eigendom“ nach niederländischem Recht) an der Prioritätsanmeldung und dem Recht auf Inanspruchnahme ihrer Priorität auf den Nachanmelder übertragen wird, reicht nicht aus, um Letzteren als Rechtsnachfolger im Sinne des Artikels 87 (1) EPÜ 1973 betrachten zu können.25)

siehe auch

Artikel 87 EPÜ → Prioritätsrecht
Legt fest, unter welchen Bedingungen ein Prioritätsrecht für eine europäische Patentanmeldung besteht.

1)
BGH, Urteil vom 25. Juni 2024 - X ZR 92/23 - Mirabegron; m.V.a. BGH, Urteil vom 11. Dezember 2014 - X ZR 107/12, GRUR 2014, 542 Rn. 20 f. - Kommunikationskanal
2) , 21) , 22)
BGH, Urteil vom 17. September 2024 - X ZR 82/23 - Slice-Segmente
3)
BGH, Urteil vom 25. Juni 2024 - X ZR 92/23 - Mirabegron; m.V:a. BGH, Urteil vom 11. Dezember 2014 - X ZR 107/12, GRUR 2014, 542 Rn. 20 f. - Kommunikationskanal
4)
BGH, Urteil vom 17. September 2024 - X ZR 82/23 - Slice-Segmente; m.V.a. BGH, Urteil vom 11. Dezember 2014 - X ZR 107/12, GRUR 2014, 542 Rn. 20 f. - Kommunikationskanal
5)
BGH, Urteil vom 11. Februar 2014 - X ZR 107/12 - Kommunikationskanal; m.V.a. EPA GBK, Beschluss vom 31. Mai 2001 - G2/98, GRUR Int. 2002, 80; BGH, Urteil vom 14. Oktober 2003 X ZR 4/00, GRUR 2004, 133, 135 Elektronische Funktionseinheit
6) , 17) , 20)
BGH, Urteil vom 11. Februar 2014 - X ZR 107/12 - Kommunikationskanal
7)
BGH, Urteil vom 11. September 2001 - X ZR 168/98, BGHZ 148, 383, 389 - Luftverteiler; Urteil vom 8. Juli 2010 - Xa ZR 124/07, GRUR 2010, 910, Rn. 62 - Fälschungssicheres Dokument; Urteil vom 14. August 2012 X ZR 3/10, GRUR 2012, 1133 Rn. 31 - UV-unempfindliche Druckplatte
8)
BGH, Urteil vom 11. Februar 2014 - X ZR 107/12 - Kommunikationskanal; m.V.a. BGH, Beschluss vom 11. Sep-tember 2001 - X ZB 18/00, GRUR 2002, 49, 51 - Drehmomentübertragungseinrich-tung; Urteil vom 18. Februar 2010 - Xa ZR 52/08, GRUR 2010, 599 Rn. 22, 24 Formteil
9)
BGH, Urteil vom 11. Februar 2014 - X ZR 107/12 - Kommunikationskanal; m.V.a. BGH, Urteil vom 16. De-zember 2008 - X ZR 89/07, BGHZ 179, 168 Rn. 25 - Olanzapin
10)
BGH, Urteil vom 11. Februar 2014 - X ZR 107/12 - Kommunikationskanal; m.V.a. BGH, GRUR 2004, 133, 135 - Elektronische Funktionseinheit
11) , 12)
BGH, Urteil vom 20. Mai 2021 - X ZR 62/19 - Bodenbelag; m.V.a. BGH, Urteil vom 16. Dezember 2008 - X ZR 89/07, BGHZ 179, 168 Rn. 25 f. - Olanzapin
13)
BGH, Urteil vom 20. Mai 2021 - X ZR 62/19 - Bodenbelag
14)
BGH, Urteil vom 9. Januar 2024 - X ZR 74/21, Bestätigung von BGH, Urteil vom 28. November 2023 - X ZR 83/21 Rn. 110 ff. - Sorafenib-Tosylat
15)
EPA, Entscheidung vom 10. Oktober 2023 - G 1/22, Rn. 110 - Prioritätsberechtigung
16)
BGH, Urteil vom 28. November 2023 - X ZR 83/21 Rn. 110 ff. - Sorafenib-Tosylat
18)
BGH, Urteil vom 11. Februar 2014 - X ZR 107/12 - Kommunikationskanal; m.V.a. BGH, Urteil vom 17. Juli 2012 - X ZR 117/11, BGHZ 194, 107 Rn. 52 - Polymerschaum
19)
ständige Rechtspre-chung seit BGH, Beschluss vom 23. Januar 1990 - X ZB 9/89, BGHZ 110, 123, 126 Spleißkammer; aus jüngerer Zeit BGH, Urteil vom 11. Februar 2014 - X ZR 107/12 - Kommunikationskanal; BGHZ 194, 107 Rn. 52 - Polymerschaum; BGH, GRUR 2012, 1133 Rn. 31 f. - UV-unempfindliche Druckplatte
23)
BGH, Urteil vom 16. April 2013 - X ZR 49/12 - Fahrzeugscheibe; m.V.a. EPA, Beschluss vom 14. November 2006 - T 62/05 Rn. 3.6; Benkard/Grabinski, aaO Rn. 3 f.; Bremi in Singer/Stauder, EPÜ, 6. Aufl., Art. 87 Rn. 53
24)
T 577/11; s. Nr. 6.5 der Entscheidungsgründe
25)
T 577/11; s. Nr. 6.6.2 der Entscheidungsgründe