Nachveröffentlichter Stand der Technik

Artikel 54 (3) des Europäischen Patentübereinkommens (EPÜ) erklärt, dass auch der Inhalt früherer europäischer Patentanmeldungen zum Stand der Technik gehört, wenn bestimmte Bedingungen erfüllt sind.

Artikel 54 (3) EPÜ

Als Stand der Technik gilt auch der Inhalt der europäischen Patentanmeldungen in der ursprünglich eingereichten Fassung, deren Anmeldetag vor dem in Absatz 2 genannten Tag liegt und die erst an oder nach diesem Tag veröffentlicht worden sind.

Eine ältere nachveröffentlichte Patentanmeldung ist bei der Neuheitsprüfung auch dann zu berücksichtigen, wenn sie nach ihrer Veröffentlichung zurückgenommen wird oder als zurückgenommen gilt.1)

Eine ältere Anmeldung ist wegen ihrer Rücknahme, Zurückweisung oder Erledigung durch Nichtzahlung der Jahresgebühr nur dann nicht mit ihrem Prioritätstag zu berücksichtigen, wenn sie infolgedessen zum Zeitpunkt der Veröffentlichung nicht mehr anhängig war.2)

Wird die Anmeldung nach ihrer Veröffentlichung zurückgenommen, fällt damit zwar auch die Möglichkeit einer Doppelpatentierung weg. Dies rechtfertigt aber kein einschränkendes Verständnis des Art. 54 Abs. 3 EPÜ, der kein Doppelpatentierungsverbot formuliert, sondern zum Stand der Technik den - gesamten - Inhalt einer älteren nachveröffentlichten europäischen Patentanmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung zählt. Schon die Entscheidung des Europäischen Patentübereinkommens für die Berücksichtigung des gesamten Inhalts der Anmeldung („whole content approach“) und gegen die vom Straßburger Übereinkommen in Art. 4 Abs. 3 und Art. 6 eröffnete Möglichkeit, auf die Ansprüche der früheren Anmeldung abzustellen („prior claim approach“), macht deutlich, dass die (umfassende) Berücksichtigung älterer Anmeldungen bei dem für die Neuheitsprüfung maßgeblichen Stand der Technik nicht nur dazu bestimmt ist, einer Doppelpatentierung vorzubeugen. Sie soll auch den Erstanmelder vor einer Einschränkung seiner wirtschaftlichen Betätigungsfreiheit durch die Erteilung eines Patents auf die von ihm offenbarte Erfindung aufgrund einer späteren Anmeldung eines Dritten schützen3). Dieser Schutzzweck verliert nicht an Bedeutung, wenn der ältere Anmelder sich nach der Veröffentlichung seiner Anmeldung entscheidet, die Anmeldung zurückzunehmen und damit die Erfindung für die Allgemeinheit freizugeben, deren technisches Wissen durch die erneute Offenbarung einer ihr bereits zur Verfügung stehenden technischen Lehre nicht bereichert wird.4)

siehe auch

Artikel 54 EPÜ → Neuheit
Definiert die Anforderungen an die Neuheit einer Erfindung, damit sie patentierbar ist.

1) , 4)
BGH, Urteil vom 8. September 2015 - X ZR 113/13 - PALplus
2)
BGH, Urteil vom 8. September 2015 - X ZR 113/13 - PALplus; m.V.a. Benkard/Mellulis, EPÜ, 2. Aufl., Art. 54 Rn. 201a; Benkard/Mellulis, PatG, 10. Aufl., § 3 Rn. 74c; Busse/Keukenschrijver, PatG, 7. Aufl., § 3 Rn. 147; Schulte/Moufang, PatG, 9. Aufl., § 3 PatG/Art. 54 EPÜ Rn. 78; Singer/Stauder/Heusler, EPÜ, Art. 54 Rn. 114; BPatGE 33, 171, 173 f.; siehe auch EPA-JBK vom 9. Dezember 1981 - J 05/81, ABl. 1982, 155, 157
3)
vgl. zu § 3 Abs. 2 PatG: BTDrucks. 7/3712 S. 29 li. Sp.