Haftung für Unterlassen

Ein Unterlassen kann positivem Tun nur gleichgestellt werden, wenn der Täter rechtlich dafür einzustehen hat, dass der tatbestandliche Erfolg nicht eintritt, und dieses Unterlassen der Verwirklichung des gesetzlichen Tatbestands durch ein Tun entspricht. Erforderlich ist eine Garantenstellung des Täters, die ihn nach einer wertenden Betrachtung verpflichtet, den deliktischen Erfolg abzuwenden.1)

Eine Garantenstellung kann sich aus vorhergehendem gefährdenden Tun (Ingerenz), Gesetz, Vertrag oder der Inanspruchnahme von Vertrauen ergeben. Sie muss gegenüber dem außenstehenden Dritten bestehen, der aus der Verletzung der Pflicht zur Erfolgsabwendung Ansprüche herleitet.2)

Ob eine Garantenstellung besteht, die es rechtfertigt, das Unterlassen der Erfolgsabwendung dem Herbeiführen des Erfolgs gleichzustellen, ist nicht nach abstrakten Maßstäben zu bestimmen. Mit der Qualifizierung einer Tätigkeit als vorangegangenes gefährliches Verhalten ist für sich genommen noch kein Unwerturteil verbunden. Auch erlaubte, sozial erwünschte oder verfassungsrechtlich besonders geschützte Tätigkeiten können Gefahrenquellen eröffnen und Abwendungspflichten mit sich bringen.3)

Es gibt jedoch keinen Automatismus dergestalt, dass ein Garant ohne weiteres für jede rechtswidrige Handlung Dritter einzustehen hat. Wie weit die jeweilige Garantenpflicht geht, bestimmt sich nach allen Umständen des konkreten Einzelfalls. Dabei bedarf es einer Abwägung unter Berücksichtigung der Interessenlage und den konkreten Verantwortungsbereichen der Beteiligten sowie der Möglichkeit und Zumutbarkeit von entsprechenden Kontroll- oder Sicherungsmaßnahmen.4)

In diese Abwägung können auch übergeordnete Aspekte wie die soziale Nützlichkeit eines Geschäftsmodells oder rechtliche Grundwertungen wie der Schutz der Presse- und Meinungsfreiheit durch Art. 5 Abs. 1 Satz 1 und 2 GG, aber auch der vom Heilmittelwerbegesetz verfolgte Gesundheitsschutz einfließen.5)

Das Angebot von Produkten auf Online-Verkaufsplattformen mit Kundenbewertungssystemen birgt regelmäßig die Gefahr, dass Produktbewertungen abgegeben werden, die aufgrund von irreführenden Angaben vom Wettbewerbsrecht geschützte Interessen von Marktteilnehmern verletzen können (zur Gefahr von Rechtsverletzungen beim Online-Handel durch die Änderung der Produktbeschreibung durch Dritte.6)

Ob ein solches Angebot eine wettbewerbsrechtliche Verkehrspflicht begründet, die zu einer Garantenstellung aus Ingerenz führt, und welche Garantenpflichten daraus folgen, hängt von den Umständen des Einzelfalls ab.7)

Die Frage, ob dem Verletzer ein positives Tun oder ein Unterlassen vorzuwerfen ist, für die Abgrenzung der Täter- und Teilnehmerhaftung von der Störerhaftung unerheblich.8)

Davon, ob dem Verletzer eines Schutzrechts positives Tun oder Unterlassen vorzuwerfen ist, hängen zwar die Voraussetzungen der Haftung im Einzelfall, insbesondere die Frage ab, ob der Verletzer aufgrund einer Garantenstellung zur Erfolgsabwendung rechtlich verpflichtet ist9), oder ob bereits das innerhalb des Schutzzwecks der Norm liegende adäquat kausale aktive Tun zur Tatbestandsverwirklichung ausreicht (Begehung durch Tun).10)

Die Frage nach aktivem Verhalten oder Unterlassen stellt sich jedoch unabhängig davon, ob der Verletzer den zum Erfolg hinführenden Kausalverlauf beherrscht und daher als Täter verantwortlich ist, ob er lediglich einem mit Tatherrschaft handelnden Dritten Hilfe leistet oder dessen Tatentschluss hervorruft und daher als Gehilfe oder Anstifter handelt, oder aber ob die objektiven oder subjektiven Voraussetzungen einer Täter- oder Teilnehmerhaftung fehlen und deshalb lediglich eine allein zur Unterlassung und Beseitigung verpflichtende Verantwortlichkeit als Störer in Betracht kommt. Ergibt die Prüfung der Umstände des Einzelfalls, dass der Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit nicht in einem positiven Tun, sondern in einem Unterlassen liegt11), kommt deshalb nicht nur eine Störerhaftung, sondern auch eine Täter- oder Teilnehmerhaftung durch Unterlassen in Betracht12).13)

siehe auch

Haftung

siehe auch

Haftung

1)
BGH, Urteil vom 20. Februar 2020 - I ZR 193/18 - Kundenbewertungen auf Amazon
2)
BGH, Urteil vom 20. Februar 2020 - I ZR 193/18 - Kundenbewertungen auf Amazon; m.V.a. BGH, Urteil vom 6. April 2000 - I ZR 67/98, GRUR 2001, 82, 83 [juris Rn. 31] = WRP 2000, 1263 - Neu in Bielefeld I; Urteil vom 28. Juni 2007 - I ZR 153/04, GRUR 2008, 186 Rn. 21 = WRP 2008, 220 - Telefonaktion; Urteil vom 18. Juni 2014 - I ZR 242/12, BGHZ 201, 344 Rn. 16 - Geschäftsführerhaftung, mwN; zur Beihilfe durch Unterlassen vgl. BGH, Urteil vom 22. Juli 2010 - I ZR 139/08, GRUR 2011, 152 Rn. 34 = WRP 2011, 223 - Kinderhochstühle im Internet I; vgl. auch BGH, Urteil vom 30. Juli 2015 - I ZR 104/14, GRUR 2015, 1223 Rn. 43 = WRP 2015, 1501 - Posterlounge; Köhler/Feddersen in Köhler/Bornkamm/Feddersen, UWG, 38. Aufl., § 8 Rn. 2.16; Ohly in Ohly/Sosnitza, UWG, 7. Aufl., § 8 Rn. 117; Hühner, GRUR-Prax 2013, 459, 460 f.
3)
BGH, Urteil vom 20. Februar 2020 - I ZR 193/18 - Kundenbewertungen auf Amazon; m.V.a. Goldmann in Harte/Henning, UWG, 4. Aufl., § 8 Rn. 384
4)
BGH, Urteil vom 20. Februar 2020 - I ZR 193/18 - Kundenbewertungen auf Amazon; m.V.a. BGH, Urteil vom 10. Juli 2012 - VI ZR 341/10, NJW 2012, 3439 Rn. 19 mwN; Goldmann in Harte/Henning, UWG, 4. Aufl., § 8 Rn. 385; Löffler in Festschrift Bornkamm, 2014, S. 37, 47 f.
5)
BGH, Urteil vom 20. Februar 2020 - I ZR 193/18 - Kundenbewertungen auf Amazon; m.V.a. Goldmann in Harte/Henning, UWG, 4. Aufl., § 8 Rn. 386 mwN
6)
BGH, Urteil vom 20. Februar 2020 - I ZR 193/18 - Kundenbewertungen auf Amazon; m.V.a. BGH, GRUR 2016, 936 Rn. 22 f. - Angebotsmanipulation bei Amazon
7)
BGH, Urteil vom 20. Februar 2020 - I ZR 193/18 - Kundenbewertungen auf Amazon; m.w.N.
8) , 10) , 13)
BGH, Urteil vom 30. Juli 2015 - I ZR 97/14
9)
Begehung durch Unterlassen, vgl. Palandt/Sprau, BGB, 73. Aufl., § 823 Rn. 2; Palandt/Grüneberg aaO Vor § 249 Rn. 51
11)
zur Maßgeblichkeit dieses Abgrenzungskriteriums BGH, Urteil vom 22. Juli 2010 - I ZR 139/08, GRUR 2011, 152 Rn. 34 = WRP 2011, 223 - Kinderhochstühle im Internet I; Urteil vom 14. Mai 2013 - VI ZR 269/12, BGHZ 197, 213 Rn. 25 f. - Autocomplete-Funktion; Köhler in Köhler/Bornkamm, UWG, 33. Aufl., § 8 Rn. 2.16
12)
vgl. zur Täterhaftung durch Unterlassen BGH, Urteil vom 6. April 2000 - I ZR 67/98, GRUR 2001, 82, 83 = WRP 2000, 1263 - Neu in Bielefeld I; Urteil vom 12. Juli 2007 - I ZR 18/04, GRUR 2007, 890 Rn. 36 = WRP 2007, 1173 - Jugendgefährdende Schriften; zur Teilnehmerhaftung durch Unterlassen BGH, GRUR 2011, 152 Rn. 34 - Kinderhochstühle im Internet I; zu beiden Möglichkeiten vgl. Köhler in Köhler/Bornkamm aaO § 8 Rn. 2.16 f.