Schadensersatzpflicht

Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs kann die Feststellung, ob der von einem am Kartellverstoß beteiligten Unternehmen vereinbarte Preis wegen des Kartells höher war, als er ohne das Kartell gewesen wäre, nur im Wege eines Indizienbeweises unter Heranziehung derjenigen Umstände getroffen werden, die darauf schließen lassen, wie sich das Marktgeschehen ohne das Kartell wahrscheinlich entwickelt hätte. Diese Feststellung, für die der Maßstab des § 287 Abs. 1 ZPO gilt, hat das Tatgericht nach freier Überzeugung zu treffen.1)

Um die erforderliche Überzeugung von der Schadensentstehung verfahrensfehlerfrei zu gewinnen, muss das Gericht eine Gesamtwürdigung vornehmen und sich umfassend mit den Umständen des Einzelfalls auseinandersetzen.2)

Die Gesamtwürdigung hat alle Umstände einzubeziehen, die festgestellt sind, oder für die diejenige Partei, die sich auf einen ihr günstigen Umstand mit indizieller Bedeutung für oder gegen einen Preiseffekt des Kartells beruft, Beweis angeboten hat. Das Tatgericht ist jedoch nicht gezwungen, jeden angebotenen Beweis zu erheben. Weil es bei der Behandlung von Anträgen zum Beweis von Indizien freier gestellt ist als bei sonstigen Beweisanträgen, darf und muss es bei einem Indizienbeweis vor der Beweiserhebung prüfen, ob die vorgetragenen Indizien - ihre Schlüssigkeit unterstellt - es von der Wahrheit der Haupttatsache überzeugen.3)

Im Rahmen der Gesamtwürdigung muss das Tatgericht berücksichtigen, dass zugunsten des Abnehmers eines an einer Kartellabsprache beteiligten Unternehmens eine auf der hohen Wahrscheinlichkeit eines solchen Geschehens beruhende tatsächliche Vermutung - im Sinne eines Erfahrungssatzes - dafür streiten kann, dass die im Rahmen des Kartells erzielten Preise im Schnitt über denjenigen liegen, die sich ohne die wettbewerbsbeschränkende Absprache gebildet hätten. Grundlage dieses Erfahrungssatzes ist die wirtschaftliche Erfahrung, dass die Gründung und Durchführung eines Kartells regelmäßig einen Mehrerlös der daran beteiligten Unternehmen zur Folge hat. Durch Kartellabsprachen sind die beteiligten Unternehmen jedenfalls in einem gewissen Umfang der Notwendigkeit enthoben, sich im Wettbewerb zur Erlangung von Aufträgen gegen konkurrierende Unternehmen durchzusetzen, und Unternehmen, die sich aufgrund solcher Absprachen nicht dem Wettbewerb, insbesondere dem Preiswettbewerb, stellen müssen, werden im Regelfall keinen Anlass sehen, bestehende Preissenkungsspielräume zu nutzen.4)

Das Gewicht des Erfahrungssatzes hängt entscheidend von der konkreten Ausgestaltung des Kartells und seiner Praxis ab und erhöht sich, je länger und nachhaltiger ein Kartell praktiziert wurde und je größer daher die Wahrscheinlichkeit ist, dass es Auswirkungen auf das Preisniveau gehabt hat, welches sich infolge der Ausschaltung oder zumindest starken Dämpfung des Wettbewerbs eingestellt hat.5)

Der Indizienbeweis ist geführt, wenn das Tatgericht auf Grundlage einer Gesamtwürdigung sämtlicher Indizien die am Maßstab des § 287 Abs. 1 ZPO zu messende Überzeugung von der Richtigkeit der zu beweisenden Haupttatsache erlangt hat. Er ist misslungen, wenn unter Berücksichtigung sämtlicher festgestellter oder - mangels erhobenen Beweises - zu unterstellender Indiztatsachen und des ihnen jeweils zukommenden Gewichts zumindest Zweifel daran verbleiben, dass ein Schaden mit der nach § 287 Abs. 1 ZPO geforderten Wahrscheinlichkeit eingetreten ist. Nicht erforderlich ist, dass der Gegner den Beweis des Gegenteils führt, mithin den Richter davon überzeugt, dass ein Schaden nicht entstanden ist.6)

Da die Bemessung der Höhe des Schadensersatzanspruchs in erster Linie Sache des dabei nach § 287 ZPO besonders freigestellten Tatrichters ist, unterliegt sie nur eingeschränkter Nachprüfung durch das Revisionsgericht. Sie kann revisionsrechtlich nur beanstandet werden, wenn das Tatgericht den Streitstoff nicht umfassend, widerspruchsfrei oder ohne Verstoß gegen Denk- und Erfahrungssätze gewürdigt hat und wenn es Rechtsgrundsätze der Schadenbemessung verkannt, wesentliche Bemessungsfaktoren außer Betracht gelassen oder seiner Schätzung unrichtige Maßstäbe zugrunde gelegt hat.7)

Es ist Sache des Anspruchstellers, diejenigen Umstände vorzutragen und gegebenenfalls zu beweisen, die seine Vorstellungen zur Schadenshöhe rechtfertigen sollen. Enthält der diesbezügliche Vortrag Lücken oder Unklarheiten, ist es jedoch in der Regel nicht gerechtfertigt, dem jedenfalls in irgendeiner Höhe Geschädigten jeden Ersatz zu versagen. Vielmehr nimmt das Gesetz mit der Einräumung der Befugnis, die Höhe des Schadens zu schätzen (§ 287 Abs. 1 ZPO), in Kauf, dass das Ergebnis der Abschätzung mit der Wirklichkeit vielfach nicht übereinstimmt; die Schätzung soll nur möglichst nahe an diese heranführen. Um der Beweisnot des Geschädigten abzuhelfen, hat das Gericht den Schaden - gegebenenfalls in Form eines Mindestschadens - zu schätzen, wenn und soweit die festgestellten Umstände hierfür noch eine genügende Grundlage abgeben. Insbesondere wenn feststeht, dass ein Schaden in einem der Höhe nach nicht bestimmbaren, aber jedenfalls erheblichen Ausmaß entstanden ist, wird sich in der Regel aus den Umständen, die die Annahme eines erheblichen Schadens begründen, eine ausreichende Grundlage für die Ermittlung eines gewissen (Mindest-)Schadens gewinnen lassen.8)

Gänzlich absehen von einer Schätzung darf das Tatgericht erst, wenn diese mangels greifbarer Anhaltspunkte völlig in der Luft hängen würde.9)

An die Darlegung konkreter Anhaltspunkte für die Feststellung des aus einer wettbewerbswidrigen Absprache resultierenden Schadens eines Abnehmers im Rahmen des § 287 Abs. 1 ZPO dürfen keine zu hohen Anforderungen gestellt werden.10)

Die Bezifferung eines Schadens, der aus einem Verstoß gegen das Verbot wettbewerbsbeschränkender Vereinbarungen resultiert, ist regelmäßig mit erheblichen tatsächlichen Schwierigkeiten und zudem oftmals mit großem sachlichen und finanziellen Aufwand verbunden. In besonderem Maße gilt dies für den durch Kartellabsprachen verursachten Preishöhenschaden, weil dieser Schaden aus einem Vergleich des vertraglich vereinbarten Preises mit dem hypothetischen Preis zu ermitteln ist, der sich ohne Kartellabsprache ergeben hätte. Dieser hypothetische Wettbewerbspreis kann auf Grundlage der Umstände des Einzelfalls nur näherungsweise bestimmt werden.11)

Denn die Auswirkungen einer wettbewerbswidrigen Absprache auf den Marktpreis hängen von einer Vielzahl von Faktoren ab12) und sind ihrerseits keiner wissenschaftlich exakten Beurteilung zugänglich. Aus diesem Grund sind die Parteien und die Rechtsanwender bei der Ermittlung von Kartellschäden mit einem besonders hohen Maß an Unsicherheit konfrontiert.13)

Für die Annäherung an den hypothetischen Wettbewerbspreis finden in der deutschen Gerichtspraxis in erster Linie räumliche, sachliche oder zeitliche Vergleichsmarktbetrachtungen Anwendung, die in unterschiedlichen ökonometrischen Modellen umgesetzt werden. Dabei kommt den Vergleichsmarktbetrachtungen kein zwingender Vorrang zu; vielmehr können je nach den Umständen des Einzelfalls auch andere anerkannte Methoden zur Ermittlung des hypothetischen Wettbewerbspreises in Betracht kommen.14)

Teilweise nehmen die Tatgerichte auch selbst Schadensschätzungen vor, gegebenenfalls auf der Basis vorgelegter Parteigutachten.15)

Der Kartellgeschädigte, der seinen Schadensersatzanspruch gerichtlich durchsetzen möchte, verfügt typischerweise weder über die erforderlichen Daten noch den notwendigen Sachverstand, um den Preishöhenschaden zu ermitteln. Das gilt insbesondere für die Schadensermittlung auf Grundlage einer anerkannten ökonomischen Methode. Nach allgemeinen zivilprozessualen Grundsätzen ist er auch nicht verpflichtet, den Umfang des geltend gemachten Schadens durch ein privates Sachverständigengutachten näher darzulegen.16)

Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs genügt eine Partei ihrer Darlegungslast, wenn sie Tatsachen vorträgt, die in Verbindung mit einem Rechtssatz geeignet sind, das geltend gemachte Recht als in ihrer Person entstanden erscheinen zu lassen. Die Angabe näherer Einzelheiten ist nicht erforderlich, soweit diese für die Rechtsfolgen nicht von Bedeutung sind. Das Gericht muss nur in die Lage versetzt werden, aufgrund des tatsächlichen Vorbringens der Partei zu entscheiden, ob die gesetzlichen Voraussetzungen für das Bestehen des geltend gemachten Rechts vorliegen.17)

Im Anwendungsbereich des § 287 ZPO kann es sich dabei auch ohne Antrag der Partei sachverständiger Hilfe bedienen (§ 287 Abs. 1 Satz 2 ZPO).18)

Danach genügt es für die Darlegung eines kartellbedingten Preishöhenschadens, wenn der Kläger alle greifbaren Anhaltspunkte für die nach § 287 ZPO vorzunehmende Schadensschätzung vorträgt, zu deren Darlegung er (ohne weiteres) in der Lage ist. Solche Anhaltspunkte können sich aber nicht nur aus (ökonometrischen) Vergleichsbetrachtungen, sondern je nach den Umständen des Einzelfalls auch aus sonstigen Indizien ergeben, die unter Berücksichtigung des genannten Erfahrungssatzes geeignet sind, auf einen erheblichen Schaden des Klägers zu schließen, insbesondere aus den im Bußgeldbescheid festgestellten Umständen.19)

siehe auch

1)
st. Rspr., vgl. nur BGH, Urteil vom 9. Juli 2024 - KZR 98/20 - LKW-Kartell IV; m.V.a. BGH, Urteile vom 23. September 2020 - KZR 35/19, BGHZ 227, 84 Rn. 56 - LKW-Kartell; vom 13. April 2021 - KZR 19/20, WuW 2021, 569 Rn. 53 mwN - LKW-Kartell II; vom 29. November 2022 - KZR 42/20, BGHZ 235, 168 Rn. 39 bis 41 mwN - Schlecker
2)
st. Rspr., vgl. BGH, Urteil vom 9. Juli 2024 - KZR 98/20 - LKW-Kartell IV; m.V.a. BGH, Urteil vom 28. Januar 2020 - KZR 24/17, WuW 2020, 202 Rn. 52 - Schienenkartell II; BGHZ 227, 84 Rn. 88 - LKW-Kartell; WuW 2021, 569 Rn. 53 f. - LKW-Kartell II
3)
BGH, Urteil vom 9. Juli 2024 - KZR 98/20 - LKW-Kartell IV; m.V.a. BGHZ 235, 168 Rn. 41 mwN - Schlecker
4)
st. Rspr., vgl. nur BGH, Urteil vom 9. Juli 2024 - KZR 98/20 - LKW-Kartell IV; m.V.a BGHZ 227, 84 Rn. 40 - LKW-Kartell; WuW 2021, 569 Rn. 26 - LKW-Kartell II; Urteil vom 28. Juni 2022 - KZR 46/20, WuW 2022, 681 Rn. 42 - Stahl-Strahlmittel; BGHZ 235, 168 Rn. 44 - Schlecker, jeweils mwN
5)
BGH, Urteil vom 9. Juli 2024 - KZR 98/20 - LKW-Kartell IV; m.V.a. BGH, Beschluss vom 28. Juni 2005 - KRB 2/05, WuW/E DE-R 1567, 1569 Rn. 20 - Berliner Transportbeton I; WuW 2020, 202 Rn. 40 - Schienenkartell II; BGHZ 227, 84 Rn. 57 - LKW-Kartell
6)
BGH, Urteil vom 9. Juli 2024 - KZR 98/20 - LKW-Kartell IV; m.V.a. BGHZ 227, 84 Rn. 58 - LKW-Kartell
7)
st. Rspr., vgl. zuletzt etwa BGH, Urteil vom 9. Juli 2024 - KZR 98/20 - LKW-Kartell IV; m.V.a. BGHZ 235, 168 Rn. 40 f. - Schlecker; Urteil vom 15. Dezember 2022 - VII ZR 177/21, juris Rn. 15; vom 7. Februar 2023 - VI ZR 137/22, VersR 2023, 596 Rn. 50, jeweils mwN
8)
BGH, Urteil vom 9. Juli 2024 - KZR 98/20 - LKW-Kartell IV; m.V.a. BGH, Urteile vom 16. Dezember 1963 - III ZR 47/63, NJW 1964, 589 [juris Rn. 19]; vom 13. Dezember 2011 - XI ZR 51/10, BGHZ 192, 90 Rn. 68
9)
BGH, Urteil vom 9. Juli 2024 - KZR 98/20 - LKW-Kartell IV; m.V.a. BGH, Urteile vom 7. Juli 1970 - VI ZR 233/69, VersR 1970, 924 [juris Rn. 45]; vom 22. Mai 1984 - III ZR 18/83, BGHZ 91, 243 [juris Rn. 55]; vom 8. Mai 2012 - VI ZR 37/11, NJW 2012, 2267 Rn. 9; vom 6. Juli 2021 - KZR 11/18, WuW 2021, 642 Rn. 29 - wilhelm.tel, jeweils mwN
10)
BGH, Urteil vom 9. Juli 2024 - KZR 98/20 - LKW-Kartell IV; vgl. zu einem Schaden in Form entgangenen Gewinns BGH, Urteil vom 17. April 1997 - X ZR 2/96, NJW-RR 1998, 331 [juris Rn. 26] - Chinaherde, sowie zur ebenfalls mit großen Unsicherheiten behafteten Feststellung eines Erwerbsschadens BGH, Urteile vom 17. Januar 1995 - VI ZR 62/94, NJW 1995, 1023 [juris Rn. 18, 21]; vom 12. Januar 2016 - VI ZR 491/14, NJW-RR 2016, 793 Rn. 18; vom 19. September 2017 - VI ZR 530/16, NJW 2018, 864 Rn. 16, jeweils mwN
11)
BGH, Urteil vom 9. Juli 2024 - KZR 98/20 - LKW-Kartell IV; m.V.a. BGH, Urteil vom 10. Februar 2021 - KZR 63/18, WuW 2021, 356 Rn. 34 mwN - Schienenkartell VI; vgl. auch Schweitzer/Woeste, ZWeR 2022, 46, 54
12)
vgl. BGH, WuW 2021, 356 Rn. 35 - Schienenkartell VI
13)
BGH, Urteil vom 9. Juli 2024 - KZR 98/20 - LKW-Kartell IV; m.V.a. vgl. Schweitzer/Woeste, ZWeR 2022, 46, 54
14)
BGH, Urteil vom 9. Juli 2024 - KZR 98/20 - LKW-Kartell IV; m.V.a. BGH, Beschlüsse vom 15. Mai 2012 - KVR 51/11, WuW/E DE-R 3632 Rn. 14 - Wasserpreise Calw; vom 14. Juli 2015 - KVR 77/13, BGHZ 206, 229 Rn. 22 bis 25 - Wasserpreise Calw II; vom 9. Oktober 2018 - KRB 51/16, WuW 2019, 146 Rn. 66 - Flüssiggas; allgemein zur ökonomischen Diskussion Oxera-Studie 2009, S. iv, v; Haucap/Heimeshoff, ZWeR 2022, 80, 82 ff., 100 ff.; Hüschelrath/Leheyda/Müller/Veith, Schadensermittlung und Schadensersatz bei Hardcore-Kartellen, 2012, S. 81; Coppik/Heimeshoff, Praxis der Kartellschadensermittlung, 2021, S. 17 f.; Schweitzer/Woeste, ZWeR 2022, 46, 6 ff.
15)
BGH, Urteil vom 9. Juli 2024 - KZR 98/20 - LKW-Kartell IV; m.V.a. OLG Celle, Urteil vom 12. August 2021, WuW 2021, 591 Rn. 97; LG Berlin, Urteil vom 15. Juni 2023, WuW 2024, 161 Rn. 63, 142
16)
BGH, Urteil vom 9. Juli 2024 - KZR 98/20 - LKW-Kartell IV; m.V.a. BGH, Urteile vom 5. Dezember 1995 - X ZR 121/93, NJW 1996, 775 [juris Rn. 9]; vom 19. Februar 2003 - IV ZR 321/02, MDR 2003, 766 [juris Rn.10]; Beschlüsse vom 22. Dezember 2015 - VI ZR 67/15, MDR 2016, 270 Rn. 4; vom 8. Dezember 2021 - VIII ZR 280/20, MDR 2022, 363 Rn. 27
17)
BGH, Urteil vom 9. Juli 2024 - KZR 98/20 - LKW-Kartell IV; m.V.a. BGH, Urteil vom 17. September 2019 - VI ZR 396/18, MDR 2020, 27 Rn. 17 mwN
18) , 19)
BGH, Urteil vom 9. Juli 2024 - KZR 98/20 - LKW-Kartell IV