→ Identitätskontrolle
→ Ultra-vires-Kontrolle
→ Formelle Übertragungskontrolle
Art. 38 (1) GG → Wahlrecht zum deutschen Bundestag
Art. 23 (1) GG → Übertragung von Hoheitsrechten
Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts erschöpft sich das dem Einzelnen in Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG garantierte Wahlrecht zum Deutschen Bundestag nicht in einer formalen Legitimation der (Bundes-) Staatsgewalt, sondern umfasst auch den Anspruch des Bürgers, nur einer öffentlichen Gewalt ausgesetzt zu sein, die er legitimieren und beeinflussen kann.1)
Eine zentrale Frage bei der Verwirklichung einer effektiven Kontrolle der Einhaltung verfassungsrechtlicher Grenzen bei der Erfüllung des Verfassungsauftrags zur konstruktiven Mitwirkung an der europäischen Integration ist es, durch wen Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht mit dem Ziel angestoßen werden können, prüfen zu lassen, ob die Verfassungsorgane ihrer Integrationsverantwortung gerecht geworden sind oder ob sie die dem Integrationsprozess gezogenen Grenzen überschritten haben. Unabhängig von Organstreitverfahren und Verfassungsbeschwerden von Personen, die möglicherweise durch ultra vires oder in identitätsverletzender Weise ergangene Hoheitsakte in ihren Grundrechten spezifisch betroffen sind, kann jeder Wahlberechtigte mit einer auf Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG gestützten Verfassungsbeschwerde das Bundesverfassungsgericht wegen einer Verletzung des „Anspruchs auf Demokratie“ anrufen. Allen Wahlbürgerinnen und Wahlbürgern kommt damit ein grundrechtsgleiches Recht auf Schutz vor einer Entleerung der von ihnen demo-kratisch legitimierten deutschen Staatsgewalt zu. Dieser Schutz bezieht sich ebenso auf die Übertragung von Hoheitsgewalt wie auf die Abwehr von Maßnahmen durch Organe, Einrichtungen und sonstige Stellen der Europäischen Union, die ultra vires im Sinne der Senatsrechtsprechung vorgenommen werden. Art. 38 Abs. 1 GG umfasst mithin einen Anspruch auf Wahrnehmung der Integrationsverantwortung durch die hierfür zuständigen Verfassungsorgane. Nach ihrem Schutzbereich und Geltungsgrund zielt die Vorschrift – ausschließlich – auf die Verwirklichung demokratischer Mitwirkungsrechte, nicht aber auf eine umfassende Rechtmäßigkeitskontrolle demokratischer Mehrheitsentscheidungen; sie dient nicht der inhaltlichen Kontrolle demokratischer Prozesse, sondern ist auf deren Ermöglichung gerichtet.2)
Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG gewährleistet Bürgerinnen und Bürgern die politische Selbstbestimmung und garantiert ihnen die freie und gleiche Teilhabe an der Legitimation der in Deutschland ausgeübten Staatsgewalt.3)
Dieses grundrechtsgleiche Recht erschöpft sich nicht in einer formalen Legitimation der (Bundes-)Staatsgewalt, sondern vermittelt den Einzelnen auch einen Anspruch darauf, mit ihrer Wahlentscheidung Einfluss auf die politische Willensbildung nehmen und etwas bewirken zu können. Im Anwendungsbereich von Art. 23 GG schützt es Bürgerinnen und Bürger davor, dass die durch die Wahl bewirkte Legitimation von Staatsgewalt und die Einflussnahme auf deren Ausübung durch die Verlagerung von Aufgaben und Befugnissen des Deutschen Bundestages auf die Europäische Union so entleert wird, dass das Demokratieprinzip verletzt wird.4))
Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG vermittelt Bürgerinnen und Bürgern in seinem durch Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 GG geschützten Kern nicht nur Schutz vor einer substantiellen Erosion der Gestaltungsmacht des Deutschen Bundestages, sondern auch ein Recht darauf, dass Organe, Einrichtungen und sonstige Stellen der Europäischen Union nur die Zuständigkeiten ausüben, die ihnen nach Maßgabe des Art. 23 GG übertragen worden sind.5)
Dieses Recht wird verletzt, wenn bei der Übertragung von Hoheitsrechten oder beim Vollzug des Integrationsprogramms die Grenzen des Art. 79 Abs. 3 GG nicht beachtet werden6), oder Organe, Einrichtungen und sonstige Stellen der Europäischen Union (innerhalb der Grenzen des Art. 79 Abs. 3 GG) Maßnahmen treffen, die vom Integrationsprogramm nicht gedeckt sind7).8)
Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG vermittelt mithin einen „Anspruch auf Demokratie“, soweit durch einen Vorgang demokratische Grundsätze berührt werden, die Art. 79 Abs. 3 GG auch dem Zugriff des verfassungsändernden Gesetzgebers entzieht, und gegenüber offensichtlichen und strukturell bedeutsamen Kompetenzüberschreitungen durch die Europäischen Organe.9)
Der Gesetzgeber darf die Bundesregierung auch nicht dazu ermächtigen, einem Ultra-vires-Akt von Organen, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Europäischen Union zuzustimmen [→ Ultra-vires-Kontrolle]. Andernfalls würde der demokratische Entscheidungsprozess, den die Art. 23 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 GG gewährleisten, unterlaufen. Das Parlament ist verpflichtet, in einem förmlichen Verfahren über die Übertragung von Kompetenzen im Rahmen der europäischen Integration zu entscheiden, damit das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung gewahrt bleibt.10)
Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG hat gegenüber offensichtlichen und strukturell bedeutsamen Kompetenzüberschreitungen durch die Europäischen Organe nicht nur eine inhaltliche, sondern auch eine verfahrensmäßige Komponente. Der wahlberechtigte Bürger hat zur Sicherung seiner demokratischen Einflussmöglichkeit im Prozess der europäischen Integration ein Recht darauf, dass eine Verlagerung von Hoheitsrechten nur in den dafür vorgesehenen Formen von Art. 23 Abs. 1 Satz 2 und Satz 3, Art. 79 Abs. 2 GG geschieht.11)
Darüber hinaus trifft die Verfassungsorgane aufgrund der ihnen obliegenden Integrationsverantwortung eine Verpflichtung, Maßnahmen von Organen, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Europäischen Union, die eine Identitätsverletzung bewirken, sowie Ultra-vires-Akten, auch wenn sie nicht den gemäß Art. 23 Abs. 1 Satz 3 in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 GG integrationsfesten Bereich betreffen, entgegenzutreten (vgl. BVerfGE 142, 123 <20 f. Rn. 163 ff.>). Bundesregierung und Bundestag haben über die Einhaltung des Integrationsprogramms zu wachen und bei offensichtlich und strukturell bedeutsamen Kompetenzüberschreitungen durch Organe der Europäischen Union Mitwirkungs- und Umsetzungshandlungen zu unterlassen und aktiv auf die Einhaltung des Integrationsprogramms hinzuwirken.12)
Als Grundrecht auf Mitwirkung an der demokratischen Selbstherrschaft des Volkes verleiht Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG zwar grundsätzlich keine Beschwerdebefugnis gegen Parlamentsbeschlüsse, insbesondere Gesetzesbeschlüsse. Sein Gewährleistungsbereich erfasst jedoch Strukturveränderungen im staatsorganisationsrechtlichen Gefüge, wie sie etwa bei der Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäische Union oder andere supranationale Einrichtungen eintreten können.13)
Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG schützt die wahlberechtigten Bürgerinnen und Bürger deshalb vor einer Übertragung von Hoheitsrechten gemäß Art. 23 Abs. 1 GG, die unter Überschreitung der Grenzen des Art. 79 Abs. 3 in Verbindung mit Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG den wesentlichen Inhalt des Grundsatzes der Volkssouveränität (Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 GG) materiell preisgibt [→ Formelle Übertragungskontrolle]. Dies prüft das Bundesverfassungsgericht im Rahmen der Identitätskontrolle, wie sie Gegenstand der Urteile zum Vertrag von Maastricht14), zum Vertrag von Lissabon15) und zum ESM-Vertrag16) war. Art. 38 Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 GG ermöglicht ferner bei offensichtlichen und strukturell bedeutsamen Kompetenzüberschreitungen von Organen, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Europäischen Union die Ultra-vires-Kontrolle durch das Bundesverfassungsgericht17).18)