Richtlinienkonforme Auslegung

Das nationale Gericht hat die Auslegung des nationalen Rechts soweit wie möglich am Wortlaut und Zweck der Richtlinie auszurichten.1)

Dazu sind anerkannte Grundsätze der Gesetzesauslegung und der Gesetzesfortbildung, einschließlich der teleologischen Reduktion und der verfassungskonformen Auslegung und Rechtsfortbildung heranzuziehen, um ein Ergebnis zu erreichen, dass den Vorgaben der Richtlinie entspricht.2)

Der Wortlaut der nationalen Regelung bildet dabei keine Grenze. Die Pflicht zur Verwirklichung des Richtlinienziels im Auslegungswege findet ihre Grenzen an dem nach innerstaatlicher Rechtstradition methodisch Erlaubten.3)

Eine richtlinienkonforme Auslegung darf aber nicht dazu führen, dass das Regelungsziel des Gesetzgebers in einem wesentlichen Punkt verfehlt oder verfälscht wird4), oder dazu, dass einer nach Wortlaut und Sinn eindeutigen Norm ein entgegengesetzter Sinn gegeben oder der normative Gehalt der Norm grundlegend neu bestimmt wird5).6)

Richterliche Rechtsfortbildung berechtigt die Gerichte nicht dazu, ihre eigene materielle Gerechtigkeitsvorstellung an die Stelle derjenigen des Gesetzgebers zu setzen.7)

Demgemäß kommt eine richtlinienkonforme Auslegung nur in Betracht, wenn eine Norm tatsächlich unterschiedliche Auslegungsmöglichkeiten im Rahmen dessen zulässt, was der gesetzgeberischen Zweck- und Zielsetzung entspricht.8)

Die Entscheidung darüber, ob im Rahmen des nationalen Rechts ein Spielraum für eine richtlinienkonforme Auslegung oder Rechtsfortbildung besteht, obliegt den Gerichten der Mitgliedstaaten.9)

Eine richtlinienkonforme Auslegung darf nicht dazu führen, dass das Regelungsziel des Gesetzgebers in einem wesentlichen Punkt verfehlt oder verfälscht wird10), oder dazu, dass einer nach Wortlaut und Sinn eindeutigen Norm ein entgegengesetzter Sinn gegeben oder der normative Gehalt der Norm grundlegend neu bestimmt wird.11)

Richterliche Rechtsfortbildung berechtigt den Richter nicht dazu, seine eigene materielle Gerechtigkeitsvorstellung an die Stelle derjenigen des Gesetzgebers zu setzen.12)

Demgemäß kommt eine richtlinienkonforme Auslegung nur in Betracht, wenn eine Norm tatsächlich unterschiedliche Auslegungsmöglichkeiten im Rahmen dessen zulässt, was der gesetzgeberischen Zweck- und Zielsetzung entspricht.13)

Der Grundsatz unionsrechtskonformer Auslegung und Rechtsfortbildung darf nicht zu einer Auslegung des nationalen Rechts contra legem führen.14)

Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sind innerstaatliche Rechtsvorschriften, die eine Richtlinie der Europäischen Union in deutsches Recht umsetzen, grundsätzlich nicht am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes, sondern allein am Unionsrecht und damit auch an den durch das Unionsrecht gewährleisteten Grundrechten [→ EU-Grundrechtecharta] zu messen, soweit die Richtlinie den Mitgliedstaaten keinen Umsetzungsspielraum über lässt, sondern zwingende Vorgaben macht.15)

Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union muss zwar bei der Umsetzung einer Richtlinie durch die Mitgliedstaaten das in der EU-Grundrechtecharta vorgesehene grundrechtliche Schutzniveau unabhängig von einem Umsetzungsspielraum der Mitgliedstaaten erreicht werden. Soweit das nationale Recht aber nicht vollständig durch das Unionsrecht bestimmt ist, steht es den nationalen Behörden und Gerichten weiterhin frei, nationale Schutzstandards für die Grundrechte anzuwenden, sofern durch diese Anwendung weder das Schutzniveau der EU-Grundrechtecharta, wie sie vom Gerichtshof ausgelegt wird, noch der Vorrang, die Einheit und die Wirksamkeit des Unionsrechts beeinträchtigt werden.16)

Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts kommt es für die Frage, ob bei der Auslegung und Anwendung unionsrechtlich bestimmten innerstaatlichen Rechts die Grundrechte des Grundgesetzes oder die Grundrechte der EU-Grundrechtecharta maßgeblich sind, grundsätzlich darauf an, ob dieses Recht unionsrechtlich vollständig vereinheitlicht ist (dann sind in aller Regel nicht die Grundrechte des Grundgesetzes, sondern allein die Unionsgrundrechte maßgeblich) oder ob dieses Recht unionsrechtlich nicht vollständig determiniert ist (dann gilt primär der Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes). Die primäre Anwendung der Grundrechte des Grundgesetzes stützt sich auf die Annahme, dass das Unionsrecht dort, wo es den Mitgliedstaaten fachrechtliche Gestaltungsspielräume einräumt, regelmäßig nicht auf eine Einheitlichkeit des Grundrechtsschutzes zielt, sondern Grundrechtsvielfalt zulässt. Es greift dann die Vermutung, dass das Schutzniveau der EU-Grundrechtecharta durch die Anwendung der Grundrechte des Grundgesetzes mitgewährleistet ist. Eine Ausnahme von der Annahme grundrechtlicher Vielfalt im gestaltungsoffenen Fachrecht oder eine Widerlegung der Vermutung der Mitgewährleistung des Schutzniveaus der EU-Grundrechtecharta sind nur in Betracht zu ziehen, wenn hierfür konkrete und hinreichende Anhaltspunkte vorliegen.17)

Soweit im Einzelfall festgestellt wird, dass die Anwendung der verschiedenen Grundrechte im konkreten Kontext nicht zu unterschiedlichen Ergebnissen führt, sind die Fachgerichte - entsprechend dem allgemeinen Prozessrecht - nicht gehindert, schwierige Abgrenzungsfragen nach der Reichweite der unionsrechtlichen Vereinheitlichung dahinstehen zu lassen.18)

siehe auch

Richtlinien

1)
BGH, Urteil v. 5. Oktober 2017 - I ZR 4/17; m.V.a. EuGH, Urteil vom 18. Oktober 2012 - C-428/11, GRUR 2012, 1269 Rn. 41 = WRP 2012, 1269 - Purely Creative
2)
BGH, Urteil v. 5. Oktober 2017 - I ZR 4/17; m.V.a. BGH, Urteil vom 26. November 2008 - VIII ZR 200/05, BGHZ 179, 27 Rn. 21; Urteil vom 28. Oktober 2015 - VIII ZR 158/11, BGHZ 207, 209 Rn. 37
3)
BGH, Urteil v. 5. Oktober 2017 - I ZR 4/17; m.V.a. BVerfG, NJW 2012, 669 Rn. 47; BGH, Urteil vom 7. Mai 2014 - IV ZR 76/11, BGHZ 201, 101 Rn. 20
4)
vgl. BVerfGE 119, 247, 274 [juris Rn. 93]; 138, 64 Rn. 86, jeweils zur verfassungskonformen Auslegung
5)
vgl. BVerfGE 118, 212, 234 [juris Rn. 91] zur verfassungskonformen Auslegung
6)
BGH, Urteil vom 19. April 2018 - I ZR 244/16 - Namensangabe
7)
BGH, Urteil vom 19. April 2018 - I ZR 244/16 - Namensangabe; m.V.a. BVerfG, NJW 2012, 669 Rn. 45
8)
BGH, Urteil vom 19. April 2018 - I ZR 244/16 - Namensangabe; m.V.a. BGH, Urteil vom 5. Oktober 2017 - I ZR 232/16, GRUR 2018, 438 Rn. 19 = WRP 2018, 420 - Energieausweis, mwN
9)
BGH, Urteil v. 5. Oktober 2017 - I ZR 4/17; m.V.a .BVerfG, NJW 2012, 669 Rn. 47 f.
10)
vgl. BVerfGE 119, 247, 274; BVerfGE 138, 64 Rn. 86, jeweils zur verfassungskonformen Auslegung
11)
BGH, Urteil v. 5. Oktober 2017 - I ZR 4/17; m.V.a. BVerfGE 118, 212, 234 zur verfassungskonformen Auslegung
12)
BGH, Urteil v. 5. Oktober 2017 - I ZR 4/17; m.V.a. BVerfG, NJW 2012, 669 Rn. 45
13)
BGH, Urteil v. 5. Oktober 2017 - I ZR 4/17; m.V.a. Gebauer in Gebauer/Wiedmann, Zivilrecht unter europäischem Einfluss 2. Aufl. Kap. 4 Rn. 41, 43; Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, 2008, S. 272 f.
14)
BGH, Urteil v. 5. Oktober 2017 - I ZR 4/17; m.V.a. EuGH, Urteil vom 24. Januar 2012 - C-282/10, NJW 2012, 509 Rn. 25 - Dominguez; BVerfG, NJW 2012, 669 Rn. 47; BGH, Urteil vom 22. Mai 2012 - XI ZR 290/11, BGHZ 193, 238 Rn. 50; Gebauer in Gebauer/Wiedmann, Zivilrecht unter europäischem Einfluss 2. Aufl., Rn. 43
15)
BGH, Urteil vom 30. April 2020 - I ZR 115/16 - Metall auf Metall IV; m.V.a. BVerfGE 142, 74 Rn. 115; BVerfG, GRUR 2020, 88 Rn. 42 bis 46 = WRP 2020, 57 - Recht auf Vergessen II
16)
BGH, Urteil vom 30. April 2020 - I ZR 115/16 - Metall auf Metall IV; m.V.a. EuGH, GRUR 2019, 940 Rn. 19 bis 23 - Spiegel Online; GRUR 2019, 934 Rn. 30 bis 33 - Funke Medien
17)
BGH, Urteil vom 30. April 2020 - I ZR 115/16 - Metall auf Metall IV; m.V.a. BVerfG, GRUR 2020, 74 Rn. 71 = WRP 2020, 39 - Recht auf Vergessen I
18)
BGH, Urteil vom 30. April 2020 - I ZR 115/16 - Metall auf Metall IV; m.V.a. BVerfG, GRUR 2020, 88 Rn. 81 - Recht auf Vergessen II