Verstoß gegen die öffentliche Ordnung oder die guten Sitten

Artikel 53 (a) EPÜ des Europäischen Patentübereinkommens (EPÜ) erklärt, dass europäische Patente nicht für Erfindungen erteilt werden, deren gewerbliche Verwertung gegen die öffentliche Ordnung oder die guten Sitten verstoßen würde.

Artikel 53 (a) EPÜ

Europäische Patente werden nicht erteilt für: a) Erfindungen, deren gewerbliche Verwertung gegen die öffentliche Ordnung oder die guten Sitten verstoßen würde; ein solcher Verstoß kann nicht allein daraus hergeleitet werden, dass die Verwertung in allen oder einigen Vertragsstaaten durch Gesetz oder Verwaltungsvorschrift verboten ist;

Regel 28 EPÜ → Patentierungsausschluss für biotechnologische Erfindungen
Regel 29 EPÜ → Patentierungsausschluss für menschliches Leben
Regel 48 EPÜ → Unzulässige Angaben

Nach Artikel 53 (a) EPÜ sind Erfindungen, deren Verwertung die Umwelt voraussichtlich ernsthaft gefährden würde, wegen Verstoßes gegen die öffentliche Ordnung von der Patentierung auszuschließen.1)

Eine Entscheidung in diesem Sinne setzt jedoch voraus, daß die Bedrohung der Umwelt zum Zeitpunkt der Entscheidung des EPA hinreichend substantiiert ist.2)

Wie aus den Materialien zum EPÜ hervorgeht, erkannte die Arbeitsgruppe „Patente“ an, daß „kein europäischer Begriff der guten Sitten“ bestehe. Ihre Mitglieder waren daher einhellig der Meinung, daß die „Auslegung des Begriffs der guten Sitten den europäischen Instanzen obliegen“ solle (s. Dok. IV/2767/61-D, S. 7). Dasselbe gilt für den Begriff der öffentlichen Ordnung (ibid., S. 8). Deshalb muß zunächst im Wege der Auslegung die Bedeutung dieser Begriffe abgeklärt werden, bevor beurteilt werden kann, ob der beanspruchte Gegenstand nach Artikel 53 a) EPÜ patentierbar ist.3)

Der Begriff der öffentlichen Ordnung beinhaltet gemeinhin den Schutz der öffentlichen Sicherheit und der physischen Unversehrtheit des Individuums als Mitglied der Gesellschaft. Dies schließt auch den Schutz der Umwelt ein. Demgemäß sind nach Artikel 53 (a) EPÜ Erfindungen, deren Verwertung voraussichtlich den öffentlichen Frieden oder das geordnete Zusammenleben in der Gemeinschaft stört (beispielsweise durch terroristische Anschläge) oder die Umwelt ernsthaft gefährdet, wegen Verstoßes gegen die öffentliche Ordnung von der Patentierung auszuschließen.4)

Der Begriff der guten Sitten knüpft an die Überzeugung an, daß ein bestimmtes Verhalten richtig und vertretbar, ein anderes dagegen falsch ist, wobei sich diese Überzeugung auf die Gesamtheit der in einem bestimmten Kulturkreis tief verwurzelten, anerkannten Normen gründet. Für die Zwecke des EPÜ ist dies der europäische Kulturkreis, wie er in Gesellschaft und Zivilisation seine Ausprägung findet. Entsprechend sind nach Artikel 53 a) EPÜ Erfindungen, deren Verwertung nicht in Einklang mit den allgemein anerkannten Verhaltensnormen dieses Kulturkreises steht, wegen Verstoßes gegen die guten Sitten von der Patentierung auszuschließen. Im zweiten Halbsatz des Artikels 53 (a) EPÜ wird einschränkend festgestellt, daß „ein solcher Verstoß … nicht allein aus der Tatsache hergeleitet werden (kann), daß die Verwertung der Erfindung in allen oder einem Teil der Vertragsstaaten durch Gesetz oder Verwaltungsvorschrift verboten ist.“ Diese Einschränkung macht deutlich, daß die Frage, ob ein Gegenstand gegen die öffentliche Ordnung oder die guten Sitten verstößt, unabhängig von etwaigen nationalen Rechtsvorschriften beurteilt werden muß. Umgekehrt kann nach Auffassung der Kammer einem bestimmten Gegenstand aus demselben Grund nicht automatisch Übereinstimmung mit den Erfordernissen des Artikels 53 (a) EPÜ bescheinigt werden, nur weil seine Verwertung in einigen oder allen Vertragsstaaten gestattet ist. Zulassung oder Verbot der Verwertung durch nationale Gesetze oder Verwaltungsvorschriften ist also allein noch kein ausreichendes Kriterium für die Prüfung nach Artikel 53 (a) EPÜ.5)

. Wie den Materialien zum EPÜ zu entnehmen ist, herrschte die Meinung vor, daß „für das europäische Patentrecht die Patentierbarkeit so weit wie möglich gefaßt werden“ sollte (s. Dok. IV/2071/61-D, S. 5, Nr. 2, Abs. 1). Die Ausnahmen von der Patentierbarkeit sind daher insbesondere im Hinblick auf Pflanzensorten und Tierarten eng ausgelegt worden (s. beispielsweise T 320/87 und T 19/90). Dies hält die Kammer auch bei den Bestimmungen des Artikels 53 (a) EPÜ für angebracht.

Die Erteilung gewerblicher Schutzrechte für „lebende“ Organismen wie Pflanzen und Tiere hat in den interessierten Kreisen lebhafte Diskussionen und in der Öffentlichkeit erhebliche Bedenken ausgelöst. Bislang haben sich die Beschwerdekammern in drei Entscheidungen, nämlich T 49/83, T 320/87 und T 19/90, mit dieser Thematik auseinandergesetzt. In der Sache T 49/83 wurde festgestellt, „ein genereller Ausschluß von Erfindungen auf dem Gebiet der belebten Natur [sei] dem Europäischen Patentübereinkommen nicht zu entnehmen“ (s. Nr. 2 der Entscheidungsgründe). Nur eine der angeführten Entscheidungen, nämlich T 19/90, geht jedoch gezielt auf die Ausnahmen von der Patentierbarkeit gemäß Artikel 53 (a) EPÜ ein (s. Nr. 5 der Entscheidungsgründe). Die in dieser Sache zuständige Kammer befand, daß „eine Prüfung der Auswirkungen des Artikels 53 (a) EPÜ auf die Frage der Patentierbarkeit aus zwingenden Gründen geboten“ sei, da es im ihr vorliegenden Fall um die Genmanipulation von Tieren gehe, die unbestreitbar in mehrfacher Hinsicht problematisch sei (Leiden der Tiere, Gefährdung der Umwelt usw.). Sie gelangte zu dem Schluß, daß die Entscheidung, ob Artikel 53 (a) EPÜ der Patentierung der vorliegenden Erfindung entgegenstehe, „wesentlich von einer sorgfältigen Abwägung der Leiden der Tiere und einer möglichen Gefährdung der Umwelt einerseits gegen den Nutzen der Erfindung für die Menschheit andererseits abhängen“ dürfte. Da die Prüfungsabteilung eine solche Abwägung noch nicht vorgenommen hatte, wurde die Sache an sie zurückverwiesen. In den Entscheidungen T 49/83 und T 320/87 wurden Ansprüche, die auf Vermehrungsgut bzw. Hybridpflanzen gerichtet waren, nach den Bestimmungen des EPÜ für gewährbar befunden.6)

Die Kammer weist darauf hin, daß sowohl in den Materialien zum EPÜ als auch in der genannten Rechtsprechung bestätigt wird, daß Erfindungen, die Pflanzen oder Tiere (ausgenommen Pflanzensorten oder Tierarten) oder auch technische Verfahren zu ihrer Erzeugung betreffen, grundsätzlich patentiert werden dürfen (s. insbesondere T 19/90, Nr. 4.10 der Entscheidungsgründe sowie das Dokument der Arbeitsgruppe „Patente“ IV/2071/61-D, S. 6). Daraus kann nach Meinung der Kammer geschlossen werden, daß Samen und Pflanzen an sich nach Artikel 53 a) EPÜ nicht allein deshalb von der Patentierbarkeit ausgenommen werden sollen, weil es sich um „lebende“ Materie handelt oder, wie der Beschwerdeführer geltend gemacht hat, weil das genetische Material von Pflanzen das „gemeinsame Erbe der Menschheit“ bleiben sollte. Zum letzteren Punkt merkt die Kammer an, daß die Patentierung des als Ausgangsprodukt verwendbaren Wildtyps des betreffenden Pflanzenmaterials im vorliegenden Fall nicht zur Diskussion steht. Die Zugehörigkeit dieses Materials zum „gemeinsamen Erbe der Menschheit“ wird also nicht angetastet.7)

Demnach lautet die maßgebliche Fragestellung im Rahmen des Artikels 53 (a) EPÜ nicht, ob lebende Organismen als solche ausgeschlossen sind, sondern vielmehr, ob die Veröffentlichung oder Verwertung einer Erfindung, die sich auf einen bestimmten lebenden Organismus bezieht, gegen die öffentliche Ordnung oder die guten Sitten verstößt.

Auch wenn sich möglicherweise nur schwer beurteilen läßt, ob ein beanspruchter Gegenstand mit der öffentlichen Ordnung oder den guten Sitten zu vereinbaren ist, darf das EPA die Bestimmungen des Artikels 53 (a) EPÜ bei der Prüfung der Patentierbarkeit nicht außer acht lassen (s. T 19/90, insbesondere Nr. 5 der Entscheidungsgründe).8)

Die Frage, ob eine beanspruchte Erfindung unter die Ausnahmen von der Patentierbarkeit im Sinne des Artikels 53 (a) EPÜ fällt, muß ausgehend von der vorstehend (unter den Nrn. 5 - 7) dargelegten Definition der Begriffe „öffentliche Ordnung“ und „gute Sitten“ nach Sachlage des jeweiligen Einzelfalls beantwortet werden. Dabei gilt es, den konkreten Sachverhalt des jeweiligen Falls zu analysieren und dann zu prüfen, ob das Patentbegehren angesichts dieses Sachverhalts haltbar ist.9)

Ist sowohl eine A 53(a) EPÜ zuwiderlaufende unlautere Verwertung möglich, wie auch eine lautere, von A 53(a) EPÜ nicht umfaßte Verwertung möglich, so ist der Gegenstand nicht vom Patentschutz ausgenommen.10)

Beispiel: Gesetzt den Fall, eine beanspruchte Erfindung beträfe ein Kopiergerät mit Merkmalen, die zu einer höheren Wiedergabequalität führten, und eine Ausführungsart dieser Vorrichtung könnte weitere (nicht beanspruchte, für den Fachmann aber offensichtliche) Merkmale umfassen, deren einziger Zweck darin bestünde, auch die Wiedergabe von Sicherheitsstreifen in Banknoten mit verblüffender Ähnlichkeit zu echten Banknoten zu ermöglichen: Dann würde die beanspruchte Vorrichtung eine Ausführungsart für die Herstellung von Falschgeld umfassen, die unter Umständen unter Artikel 53 (a) EPÜ fiele. Es gäbe aber keinen Grund, das beanspruchte Kopiergerät vom Patentschutz auszuschließen, weil seine verbesserten Eigenschaften für zahlreiche zulässige Zwecke genutzt werden könnten.11)

Bei der Prüfung eines „echten“ Einwands nach Artikel 53 (a) EPÜ stellt eine einzelne z. B. auf wirtschaftlichen oder religiösen Grundsätzen beruhende Definition der guten Sitten keine allgemein anerkannte Norm des europäischen Kulturkreises dar. In Meinungsumfragen erhobene Daten sind aus den in T 356/93 angeführten Gründen als Beweismaterial von sehr begrenztem Wert.12)

Die Prüfung eines „echten“ Einwands nach Artikel 53 (a) EPÜ erfolgt zum Anmelde- oder Prioritätstag; danach bekannt werdendes Beweismaterial kann berücksichtigt werden, sofern es sich auf die Sachlage an diesem Tag bezieht.13)

siehe auch

Artikel 53 EPÜ → Ausnahmen von der Patentierbarkeit
Beschreibt die Ausnahmen von der Patentierbarkeit.

1)
T 93/0356, s. Nr. 5 der Entscheidungsgründe
2)
T 93/0356, s. Nr. 18.5 der Entscheidungsgründe
3) , 4) , 5) , 6) , 7) , 8) , 9)
T 0356/93 (Pflanzenzellen) vom 21.2.1995
10) , 11)
Entscheidung der Großen Beschwerdekammer vom 20. Dezember 1999 - G 1/98
12)
T315/03, s. Nrn. 10.1 bis 10.4 der Entscheidungsgründe
13)
T315/03, s. Nr. 10.9 der Entscheidungsgründe