====== Verkehrsverständnis ====== Die Ermittlung des Verkehrsverständnisses ist keine Tatsachenfeststellung, sondern Anwendung eines speziellen Erfahrungswissens.((BGH, Urt. v. 18. September 2014 - I ZR 34/12; BGH, Urt. v. 29. März 2007 - I ZR 122/04 - Bundesdruckerei; m.V.a. BGHZ 156, 250, 254 - Marktführerschaft; BGH, Urt. v. 3.5.2001 - I ZR 318/98, GRUR 2002, 182, 184 = WRP 2002, 74 - Das Beste jeden Morgen)) Im Allgemeinen bedarf es keines durch eine Meinungsumfrage untermauerten [[Sachverständigengutachten|Sachverständigengutachtens]] zur Ermittlung des Verkehrsverständnisses, wenn die entscheidenden Richter selbst zu den angesprochenen [[Verkehrskreise|Verkehrskreisen]] gehören.((st. Rspr.; BGH, Urt. v. 18. September 2014 - I ZR 34/12; m.V.a. BGHZ 156, 250, 255 Marktführer-schaft; BGH, Urteil vom 9. Juni 2011 I ZR 113/10, GRUR 2012, 215 Rn. 14 = WRP 2012, 75 Zertifizierter Testamentsvollstrecker; Urteil vom 13. Septem-ber 2012 I ZR 230/11, BGHZ 194, 314 Rn. 32 Biomineralwasser)) Eine Beweisaufnahme ist jedoch erforderlich, wenn dem Tatgericht die erforderliche Sachkunde fehlt oder sich ihm trotz eigener Sachkunde Zweifel am Ergebnis aufdrängen müssen.((BGH, Beschluss vom 31. August 2023 - I ZR 11/23; m.V.a. BGHZ 194, 314 [juris Rn. 43] - Biomineralwasser; BGH, Urteil vom 27. März 2013 - I ZR 100/11, GRUR 2013, 631 [juris Rn. 47 f.] = WRP 2013, 778 - AMARULA/Marulablu; BGH, MittdtschPatAnw 2021, 93 [juris Rn. 12])) Ebenso hat der Senat bereits entschieden, dass kein Rechtssatz des Inhalts besteht, dass eine Beweiserhebung stets geboten ist, wenn die Richter von der in Rede stehenden Werbung selbst nicht angesprochen werden. Das erforderliche Erfahrungswissen kann das Gericht grundsätzlich auch dann haben, wenn die entscheidenden Richter nicht zu den angesprochenen Verkehrskreisen zählen.((BGH, Urt. v. 18. September 2014 - I ZR 34/12; m.V.a. BGHZ 156, 250, 255 Marktführerschaft; BGH, Urteil vom 29. März 2007 I ZR 122/04, GRUR 2007, 1079 Rn. 36 = WRP 2007, 1346 Bundesdruckerei; Urteil vom 22. Januar 2014 I ZR 218/12, GRUR 2014, 682 Rn. 29 = WRP 2014, 835 Nordjob-Messe; Fezer/Büscher, UWG, 2. Aufl., § 12 Rn. 322)) Dieses Erfahrungswissen kann das Gericht grundsätzlich auch dann haben, wenn die entscheidenden Richter nicht zu den angesprochenen Verkehrskreisen zählen.((BGH, Urt. v. 29. März 2007 - I ZR 122/04 - Bundesdruckerei; m.V.a. BGHZ 156, 250, 255 - Marktführerschaft; Bornkamm in Hefermehl/Köhler/Bornkamm aaO § 5 UWG Rdn. 3.12; Link in Ullmann, jurisPK-UWG, § 5 Rdn. 678; Piper in Piper/Ohly, UWG, 4. Aufl., § 5 Rdn. 144; Fezer/Büscher, UWG, § 12 Rdn. 264)) Nach Erwägungsgrund 18 Satz 6 der Richtlinie 2005/29/EG über unlautere Geschäftspraktiken müssen sich die nationalen Gerichte bei der Beurteilung der Frage, wie der Durchschnittsverbraucher in einem gegebenen Fall typischerweise reagieren würde, auf ihre eigene Urteilsfähigkeit unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union verlassen. Es entspricht auch dem Vorgehen des Gerichtshofs der Europäischen Union, der bei der Beurteilung einer Irreführung regelmäßig auf die mutmaßliche Erwartung eines Durchschnittsverbrauchers abstellt, ohne ein Sachverständigengutachten einzuholen oder eine Verbraucherbefragung in Auftrag zu geben.((BGH, Urt. v. 18. September 2014 - I ZR 34/12; m.V.a. EuGH, Urteil vom 16. Juli 1998 C210/96, Slg. 1998, I4657 Rn. 32 f. = GRUR Int. 1998, 795 = WRP 1998, 848 Gut Springenheide, mwN)) Dies gilt regelmäßig auch in Fällen, in denen die Auswirkung einer Geschäftspraktik, die sich speziell an eine besondere Verbrauchergruppe richtet, aus der Sicht eines Durchschnittsmitglieds dieser Gruppe zu beurteilen ist.((BGH, Urt. v. 18. September 2014 - I ZR 34/12; m.V.a. EuGH, Urteil vom 18. Oktober 2012 C-428/11, GRUR 2012, 1269 Rn. 53 = WRP 2012, 1509 Purely Creative)) Die nationalen Gerichte können in der Regel in gleicher Weise verfahren. Dies gilt auch für die Beurteilung des Verkehrsverständnisses durch das Revisionsgericht sowohl in dem Fall, dass es rechtsfehlerhafte Feststellungen des Berufungsgerichts zur Auffassung eines durchschnittlichen Angehörigen einer Verbrauchergruppe aufgrund eigener Sachkunde ersetzt((BGH, Urt. v. 18. September 2014 - I ZR 34/12; m.V.a. BGH, Urteil vom 18. Januar 2012 - I ZR 104/10, GRUR 2012, 942 Rn. 12 und 18 = WRP 2012, 1094 Neurologisch/Vaskuläres Zentrum; Urteil vom 31. Oktober 2012 I ZR 205/11, GRUR 2013, 644 Rn. 20 und 23 = WRP 2013, 764 Preisrätselgewinnauslobung V)), wie auch für den Fall, dass es seinerseits die Auffassung des angesprochenen Verkehrs aufgrund eigenen Erfahrungswissens auf der Grundlage des unstreitigen oder festgestellten Sachverhalts beurteilt, ohne dass insoweit Feststellungen des Berufungsgerichts durch das Revisionsgericht ersetzt werden.((BGH, Urt. v. 18. September 2014 - I ZR 34/12; m.V.a. BGH, Urteil vom 24. Januar 2013 I ZR 60/11, GRUR 2013, 397 Rn. 42 f. = WRP 2013, 499 Peek & Cloppenburg III; Urteil vom 12. Dezember 2013 I ZR 192/12, GRUR 2014, 686 Rn. 34 = WRP 2014, 831 Goldbärenbarren)) -> [[Sachverständigengutachten]] Auch im Heilmittelwerberecht ist für die Bestimmung des Inhalts einer Werbeaussage das Verständnis des durchschnittlich informierten, aufmerksamen und verständigen Werbeadressaten((vgl. zu diesem Maßstab nur BGH, Urteil vom 2. Oktober 2003 - I ZR 150/01, BGHZ 156, 250, 252 [juris Rn. 13] - Marktführerschaft)) maßgeblich.((BGH, Urteil vom 5. November 2020 - I ZR 204/19 - Sinupret)) Die Feststellung der Verkehrsauffassung ist in der Revisionsinstanz darauf zu überprüfen, ob die Vorinstanz den Tatsachenstoff verfahrensfehlerfrei ausgeschöpft hat.((BGH, Urt. v. 30. April 2008 - I ZR 123/05 - Rillenkoffer; m.V.a. BGH, Urt. v. 18.10.2001 - I ZR 193/99, GRUR 2002, 550, 552 = WRP 2002, 527 - Elternbriefe; Urt. v. 29.6.2006 - I ZR 110/03, GRUR 2006, 937 Tz. 27 = WRP 2006, 1133 - Ichthyol II)) Gemäß der Rechtsprechung des Senats kann die Verkehrsauffassung durch Rechtsvorschriften grundsätzlich in der Form beeinflusst werden, dass sie den bestehenden Normen entspricht.((BGH, Urteil vom 7. April 2022 - I ZR 5/21 - Kinderzahnärztin; m.V.a. BGH, Urteil vom 20. Mai 2009 - I ZR 220/06, GRUR 2009, 970 Rn. 25 = WRP 2009, 1095 - Versicherungsberater; Urteil vom 4. Juli 2019 - I ZR 161/18, GRUR 2020, 299 Rn. 17 = WRP 2020, 317 - IVD-Gütesiegel; BGH, GRUR 2021, 1315 Rn. 21 - Kieferorthopädie, mwN)) Dies ist jedoch nicht zwingend, sondern bedarf der Prüfung im Einzelfall.((BGH, Urteil vom 7. April 2022 - I ZR 5/21 - Kinderzahnärztin)) ===== siehe auch ===== -> [[Verkehrskreise]] \\ -> [[Sachverständigengutachten]] \\