====== Sorgfaltspflicht in Fristsachen ====== -> [[Zurechnung des Verschuldens einer Hilfskraft]] \\ -> [[Verzögerungen oder sonstige Fehler bei der Briefbeförderung oder Briefzustellung]] \\ -> [[Fehlfunktion technischer Einrichtungen in der Anwaltskanzlei]] \\ -> [[Anwaltliche Sorgfaltspflicht beim Rechtsübergang von Schutzrechten]] \\ -> [[Pflicht des Rechtsanwalts zur Nachfrage und Nachforschung]] \\ -> [[Büroorganisation des Rechtsanwalts]] \\ -> [[Organisationsverschulden]] \\ -> [[Unrichtige Bezeichnung des Gerichts]] \\ -> [[Fristenkontrolle]] \\ -> [[Ausgangskontrolle]] \\ Die Sorgfaltspflicht in Fristsachen verlangt von einem [[Rechtsanwalt]], alles ihm Zumutbare zu tun, um die Wahrung von [[Rechtsmittelfrist|Rechtsmittelfristen]] zu gewährleisten. Für den Fall, dass die Notierung von Fristen einer gut ausgebildeten, als zuverlässig erprobten und sorgfältig überwachten Bürokraft überlassen wird, muss durch geeignete organisatorische Maßnahmen sichergestellt sein [-> [[Organisationsverschulden]]], dass die Fristen zuverlässig festgehalten und kontrolliert werden [-> [[Fristenkontrolle]]].((BGH, Beschl. v. 10. Februar 2022 - I ZB 46/21; m.w.N.)) Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs hat ein Rechtsanwalt durch organisatorische Vorkehrungen sicherzustellen, dass ein fristgebundener Schriftsatz rechtzeitig gefertigt wird und beim zuständigen Gericht innerhalb der laufenden Frist eingeht. Hierzu hat er grundsätzlich sein Möglichstes zu tun, um Fehlerquellen bei der Eintragung und Behandlung von Rechtsmittelfristen auszuschließen.((BGH, Beschluss vom 26. Januar 2023 - I ZB 42/22; m.V.a. BGH, Beschluss vom 29. Oktober 2019 - VIII ZB 103/18, NJW-RR 2020, 52 [juris Rn. 11]; Beschluss vom 9. Januar 2020 - I ZB 41/19, juris Rn. 9)) Zwar darf der Rechtsanwalt die Anfertigung einer Rechtsmittelschrift seinem angestellten Büropersonal übertragen. Er ist dann aber verpflichtet, das Arbeitsergebnis selbst sorgfältig zu überprüfen. So gewichtige Aufgaben wie die Bezeichnung des Rechtsmittelgerichts darf auch gut geschultem und erfahrenem Personal eines Rechtsanwalts nicht eigenverantwortlich überlassen werden. Der Prozessbevollmächtigte einer Partei muss die Rechtsmittelschrift deswegen vor der Unterzeichnung auf die Vollständigkeit, darunter auch auf die richtige Bezeichnung des Rechtsmittelgerichts überprüfen.((st. Rspr.; BGH, Beschluss vom 26. Januar 2023 - I ZB 42/22; m.V.a. BGH, Beschluss vom 8. Februar 2012 - XII ZB 165/11, NJW 2012, 1591 [juris Rn. 30]; Beschluss vom 5. Juni 2013 - XII ZB 47/10, NJW-RR 2013, 1393 [juris Rn. 11]; Beschluss vom 16. September 2015 - V ZB 54/15, NJW-RR 2016, 126 [juris Rn. 9]; Beschluss vom 22. Juli 2015 - XII ZB 583/14, FamRZ 2015, 1878 [juris Rn. 12]; BGH, NJW-RR 2017, 956 [juris Rn. 6])) Einer Partei Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren [§ 233 ZPO -> [[Wiedereinsetzung in den vorigen Stand]]], wenn sie ohne ihr Verschulden an der Einhaltung der Frist gehindert war. Verschulden umfaßt [[Privatrecht:Vorsatz]] und [[Privatrecht:Fahrlässigkeit]]. Verschulden ist subjektiv unterschiedlich zu bewerten. An einen Patentanwalt/Rechtsanwalt werden erhöhte Anforderungen gestellt. Eine Wiedereinsetzung kommt schon dann nicht in Betracht, wenn ein Mitverschulden der Partei oder ihres Prozeßbevollmächtigten (§ 85 Abs. 1 ZPO) Ursache für die Fristversäumung war.((BGH, Beschl. v. 8.3.2001 - V ZB 5/01, NJW-RR 2001, 1072 m.w.N.)) Das Verschulden des Vertreters ist wie eigenens Verschulden zu bewerten. Die Verzögerung der Briefbeförderung durch die Post kann einer Partei nicht als Verschulden angerechnet werden. [-> [[Verzögerungen oder sonstige Fehler bei der Briefbeförderung oder Briefzustellung]]] Unvorhersehbares (z.B. eine Reifenpanne, etc.) wird nicht dem Antragsteller zu Lasten gelegt. Rechtsunkenntnis entschuldigt grundsätzlich nicht, außer sie wäre auch bei zumutbarer äußerster Sorgfalt nicht zu vermeiden gewesen.((van Hees, Verfahrensrecht in atentsachen)) Außergewöhnliche seelische Belastungen können bedingt berücksichtigt werden.((van Hees, Verfahrensrecht in Patentsachen)) Prozessbevollmächtigte müssen in ihrem Büro eine [[Ausgangskontrolle]] schaffen, durch die zuverlässig gewährleistet wird, dass fristwahrende Schriftsätze rechtzeitig hinausgehen. Die Partei muß Vorkehrungen treffen, dass sie von gerichtlichen Zustellungen Kenntnis erlangt.((BGH, Vers.-Urt. v. 19. Juli 2007 - I ZR 136/05 - Fehlende Unterschrift)) Zu den zur Ermöglichung einer Gegenkontrolle erforderlichen Vorkehrungen im Rahmen der Fristenkontrolle gehört insbesondere, dass die Rechtsmittelfristen in der Handakte notiert werden und die Handakte durch entsprechende Erledigungsvermerke oder auf sonstige Weise erkennen lässt, dass die Fristen in den Fristenkalender eingetragen worden sind. Zu einer ordnungsgemäßen Büroorganisation gehört dabei die klare Anweisung, dass stets und unter allen Umständen zuerst die Fristen im Kalender eingetragen werden müssen, bevor dies in der Handakte vermerkt wird.((BGH, Beschl. v. 10. Februar 2022 - I ZB 46/21; m.V.a. BGH, Beschluss vom 6. Februar 2018 - II ZB 14/17, NJOZ 2018, 828 Rn. 10 mwN; Beschluss vom 23. Juni 2020 - VI ZB 63/19, NJW 2020, 2641 Rn. 10 mwN)) Der Rechtsanwalt darf das Empfangsbekenntnis über eine Urteilszustellung zudem nur unterzeichnen und zurückgeben, wenn sichergestellt ist, dass in den Handakten die Rechtsmittelfrist festgehalten und vermerkt ist, dass die Frist im Fristenkalender notiert worden ist.((BGH, Beschl. v. 10. Februar 2022 - I ZB 46/21; m.V.a. BGH, Beschluss vom 12. September 2019 - IX ZB 13/19, NJW 2019, 3234 Rn. 13 mwN)) Der Rechtsanwalt hat ferner selbstständig und eigenverantwortlich zu prüfen, ob ein Fristende richtig ermittelt und eingetragen wurde, wenn ihm die Sache im Zusammenhang mit einer fristgebundenen Prozesshandlung, insbesondere zu deren Bearbeitung, vorgelegt wird. Ist die Erledigung der Eintragung im Fristenkalender ordnungsgemäß in der Handakte vermerkt und drängen sich an der Richtigkeit insoweit keine Zweifel auf, braucht der Rechtsanwalt nicht noch zusätzlich zu überprüfen, ob das Fristende auch tatsächlich im Fristenkalender eingetragen ist.((BGH, Beschl. v. 10. Februar 2022 - I ZB 46/21; m.V.a. BGH, Beschluss vom 19. September 2017 - VI ZB 40/16, NJWRR 2018, 58 Rn. 7 und 9 mwN; BGH, NJW 2020, 2641 Rn. 10 mwN)) Weicht der Rechtsanwalt von einer bestehenden Organisation ab und erteilt er für einen konkreten Fall genaue Anweisungen, die schon für sich genommen eine Fristwahrung gewährleisten, sind allein diese maßgeblich; auf allgemeine organisatorische Vorkehrungen kommt es dann nicht mehr an.((BGH, Beschl. v. 10. Februar 2022 - I ZB 46/21; m.V.a. BGH, Beschluss vom 24. Januar 2019 - I ZB 47/18, juris Rn. 15 mwN)) Er darf grundsätzlich darauf vertrauen, dass eine Bürokraft, die sich bisher als zuverlässig erwiesen hat, eine konkrete Einzelanweisung befolgt. Deshalb ist er im Allgemeinen nicht verpflichtet, sich anschließend über die Ausführung seiner Weisung zu vergewissern. Betrifft die Anweisung indessen einen so wichtigen Vorgang wie die Eintragung einer Rechtsmittelfrist und wird sie nur mündlich erteilt, müssen ausreichende Vorkehrungen dagegen getroffen sein oder werden, dass die Anweisung - etwa im Drang der übrigen Geschäfte - in Vergessenheit gerät und die Fristeintragung unterbleibt. Durch eine klare und präzise Anweisung im Einzelfall, die Rechtsmittelbegründungsfrist sofort und vor allen anderen Aufgaben im Fristenkalender einzutragen, wird in diesen Fällen eine ausreichende Vorkehrung getroffen, insbesondere dann, wenn weiter eine allgemeine Büroanweisung besteht, einen solchen Auftrag stets vor allen anderen Aufgaben zu erledigen.((BGH, Beschl. v. 10. Februar 2022 - I ZB 46/21; m.V.a. BGH, Beschluss vom 11. März 2020 - XII ZB 446/19, NJW-RR 2020, 940 Rn. 13 mwN; Beschluss vom 5. Mai 2021 - XII ZB 552/20, NJW-RR 2021, 998 Rn. 15 mwN)) Nur gesetzliche Fristen sind wiedereinsetzbar, nicht aber Termine. Die versäumte Frist muß einen Rechtsnachteil zur Folge haben. Patentamtliche oder gerichtliche Fristen haben nicht unmittelbar einen Rechtsnachteil zur Folge und sind demnach nicht wiedereinsetzbar. Für patentamtliche Fristen existiert die Möglichkeit der [[Weiterbehandlung]]. Die Antragsfrist des § 123 Abs. 2 Satz 1 PatG beginnt nicht schon mit dem Erhalt der patentamtlichen Mitteilung, mit der der Patentinhaber über eine Zahlungsfrist als solche unterrichtet wird. Positive Kenntnis von der Fristversäumung hat der Patentinhaber erst nach dem Erhalt der Mitteilung des Patentamts, dass sein Patent wegen nicht rechtzeitiger Zahlung einer Jahresgebühr erloschen ist.((BPatG, Beschl. v. 21.04.2005 – 10 W (pat) 45/03.)) ===== siehe auch ===== § 233 ZPO -> [[Wiedereinsetzung in den vorigen Stand]] \\ -> [[Anwaltliche Sorgfaltspflicht]] \\ -> [[Frist]] \\