====== Recht auf ein faires Verfahren ====== Als allgemeine Ausprägung des [[Rechtsstaatsprinzip|Rechtsstaatsprinzips]] gewährleistet Art. 2 Abs. 1 [-> [[Allgemeines Persönlichkeitsrecht]]] in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG [-> [[Gewaltenteilung und Gesetzesbindung]]] ferner das Recht auf ein faires Verfahren. So darf sich der [[Richter]] nicht widersprüchlich verhalten, aus eigenen oder ihm zuzurechnenden Fehlern oder Versäumnissen keine Verfahrensnachteile für die Parteien ableiten und die allgemeine Pflicht zur Rücksichtnahme gegenüber den Verfahrensbeteiligten in ihrer konkreten Situation nicht missachten.((BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 08. November 2022 - 2 BvR 2480/10; m.V.a. BVerfGE 38, 105 <111 ff.>; 40, 95 <98 f.>; 46, 202 <210>; 69, 381 <387>; 78, 123 <126>)) Im Hinblick auf die normative Ausgestaltung eines Gerichtsverfahrens liegt eine Verletzung von Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG allerdings erst dann vor, wenn eine Gesamtschau auf das Verfahrensrecht – auch in seiner Auslegung und Anwendung durch die Gerichte – ergibt, dass der Gesetzgeber rechtsstaatlich zwingende Folgerungen nicht gezogen oder rechtsstaatlich Unverzichtbares preisgegeben hat.((BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 08. November 2022 - 2 BvR 2480/10; m.V.a. BVerfGE 57, 250 <275 f.>; 63, 45 <61>; 70, 297 <308 f.>; 78, 123 <126>; 86, 288 <317 f.>; 122, 248 <272>)) Dem Rechtsstaatsgebot lassen sich grundsätzlich keine detaillierten verfahrensrechtlichen Anforderungen für die Ausgestaltung des gerichtlichen Prozessrechts entnehmen, es sei denn, dass das rechtsstaatliche Maß an effektivem Rechtsschutz oder Justizgewährung nicht mehr gewahrt wäre((vgl. BVerfGE 60, 253 <298>; 77, 170 <229 f.>)). Das gilt etwa mit Blick auf die Protokollierung einer mündlichen Verhandlung, deren Bedeutung nicht für alle Prozessarten gleich ist und von der Einbettung in die sonstigen Verfahrensregelungen abhängt. Effektiver Rechtsschutz verlangt ferner eine Begründung der Entscheidung, wenn durch das Fehlen der Begründung der Zugang zu einer in der jeweiligen Prozessordnung vorgesehenen weiteren Instanz verschlossen würde. Entscheidungen, die den Instanzenzug abschließen und bei denen kein ordentliches Rechtsmittel mehr gegeben ist, unterliegen nach deutschem Recht hingegen keiner aus dem Grundgesetz abzuleitenden Begründungspflicht((vgl. BVerfGE 50, 287 <289 f.>; 94, 166 <210>)). Soweit es einer Begründung bedarf, muss diese in angemessener Zeit gegeben werden. Insoweit gilt die Pflicht zur Gewährung zeitnahen Rechtsschutzes für das gesamte Verfahren bis zum Eintritt der formellen Rechtskraft. Urteile, gegen die noch ein Rechtsmittel oder Rechtsbehelfe mit Suspensiveffekt statthaft sind, sind daher so rechtzeitig abzusetzen, dass dem Anspruch auf zeitnahen Rechtsschutz Genüge getan wird. Was dies konkret bedeutet, hängt von den Umständen des Einzelfalls ab((vgl. BVerfGE 55, 349 <369>)).((BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 08. November 2022 - 2 BvR 2480/10)) Ein Anspruch auf ein faires Verfahren ergibt sich auch aus Art. 6 Abs. 1 EMRK, dem sich – neben der Gewährleistung des Zugangs zu einem neutral und objektiv entscheidenden Gericht – verfahrensrechtliche Grundanforderungen entnehmen lassen. Die Ausgestaltung eines gerichtlichen Verfahrens muss die grundlegenden Elemente der Fairness aufweisen((„fair trial“; vgl. EGMR, Artico v. Italy, Urteil vom 13. Mai 1980, Nr. 6694/74, § 32 f.; Grabenwarter/Pabel, in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG Konkordanz-Kommentar, Bd. I, 2. Aufl. 2013, Kapitel 14 Rn. 93 ff.)). Dafür ist wesentlich, dass die Beteiligten an einem gerichtlichen Verfahren nicht zu reinen Objekten herabgestuft werden, sondern über angemessene Mitwirkungsrechte verfügen („Waffengleichheit“), wie zum Beispiel Rechte zur Stellungnahme oder zu eigenständigen Beweisangeboten((vgl. EGMR, Brandstetter v. Austria, Urteil vom 28. August 1991, Nr. 11170/84, § 41 ff.; Dombo Beheer B. V. v. Netherlands, Urteil vom 27. Oktober 1993, Nr. 14448/88, § 33; Vermeulen v. Belgium, Urteil vom 20. Februar 1996, Nr. 19075/91, §§ 28, 34; vgl. Germelmann, Das rechtliche Gehör vor Gericht im europäischen Recht, 2014, S. 441)). Aus Art. 6 Abs. 1 EMRK ergibt sich auch ein Recht auf Akteneinsicht((vgl. EGMR, Brandstetter v. Austria, Urteil vom 28. August 1991, Nr. 11170/84, § 67; Grabenwarter, Verfahrensgarantien in der Verwaltungsgerichtsbarkeit, 1997, S. 600 f.)). Schließlich hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte festgestellt, dass die Anforderungen an ein faires Verfahren im Sinne von Art. 6 Abs. 1 EMRK nur dann erfüllt sind, wenn es sich bei dem Recht, sich vor Gericht zu einem Beweismittel zu äußern, um eine echte Möglichkeit wirksamer Stellungnahme zu dem Beweismittel handelt. Eine gerichtliche Überprüfung dieser Frage sei insbesondere dann geboten, wenn das Beweismittel aus einem technischen Bereich stamme, in dem das Gericht nicht über Sachkenntnis verfüge, und geeignet sei, die Würdigung der Tatsachen durch das Gericht maßgeblich zu beeinflussen((vgl. EGMR, Mantonavelli v. France, Urteil vom 18. März 1997, Nr. 21497/93, § 36)).((BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 08. November 2022 - 2 BvR 2480/10)) Das Gericht hat nach Art. 6 EMRK Ausführungen oder Beweisangebote zur Kenntnis zu nehmen, zu prüfen und zu würdigen, muss aber nicht jeden Parteivortrag berücksichtigen, sondern nur auf die Hauptargumente des Vortrags eingehen((vgl. EGMR, van de Hurk v. Netherlands, Urteil vom 19. April 1994, Nr. 16034/90, § 59; Goktepe v. Belgium, Urteil vom 2. Juni 2005, Nr. 50372/99, § 25; Buzesku v. Romania, Urteil vom 24. Mai 2005, Nr. 61302/00, § 67)). Weitergehende Anforderungen an Hinweispflichten, die den Maßstab des Art. 103 Abs. 1 GG überschreiten, werden vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte nicht aufgestellt((vgl. EGMR, Clinique des Acacias u.a. v. France, Urteil vom 13. Oktober 2005, Nr. 65399/01 u.a., § 37 f.)). Das Gericht hat eine abschließende und hinreichend begründete Entscheidung zu treffen((vgl. EGMR, Jafarli v. Azerbaijan, Urteil vom 29. Juli 2010, Nr. 36079/06, §§ 52, 61)). Das Gerichtsverfahren muss nach Art. 6 Abs. 1 EMRK eine angemessene Dauer aufweisen, was sich stets nach den Umständen des Einzelfalls richtet((vgl. EGMR, Uhl v. Germany, Urteil vom 10. Februar 2005, Nr. 64387/01, § 27 ff.; Nowak, in: Heselhaus/Nowak, Handbuch der Europäischen Grundrechte, 2. Aufl. 2020, § 57 Rn. 44)). Ein Urteil ist schriftlich zu begründen, da dies eine ordnungsgemäße Rechtspflege gewährleistet, Willkür verhindert und dazu beiträgt, das Vertrauen der Öffentlichkeit und der Betroffenen in die getroffene Entscheidung zu stärken.( (BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 08. November 2022 - 2 BvR 2480/10; m.V.a. EGMR, Cerovšek u.a. v. Slovenia, Urteil vom 7. März 2017, Nr. 68939/12 u.a., § 40; Grabenwarter, Verfahrensgarantien in der Verwaltungsgerichtsbarkeit, 1997, S. 665 ff)) Im Unionsrecht leitet sich das Recht auf ein faires gerichtliches Verfahren als allgemeiner Grundsatz aus der gemeinsamen Verfassungsüberlieferung der Mitgliedstaaten ab((vgl. EuGH, Urteil vom 2. Mai 2006, Eurofood IFSC Ltd, C-341/04, EU:C:2006:281, Rn. 65; Urteil vom 25. Januar 2007, Salzgitter Mannesmann GmbH gegen Kommission der Europäischen Gemeinschaften, C-411/04 P, EU:C:2007:54, Rn. 40 f.; Urteil vom 6. September 2012, Trade Agency Ltd gegen Seramico Investments Ltd, C-619/10, EU:C:2012:531, Rn. 52)) und hat in Art. 47 Abs. 2 GRCh eine entsprechende Verankerung erfahren((vgl. Blanke, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 6. Aufl. 2022, EU-GRCharta Art. 47 Rn. 12)), die zumindest das Schutzniveau des Art. 6 Abs. 1 EMRK abdeckt((vgl. Art. 52 Abs. 3 GRCh; BVerfGE 140, 317 <361 f. Rn. 98> unter Verweis auf: Erläuterungen zur Charta der Grundrechte, ABl EU Nr. C 303 vom 14. Dezember 2007, S. 17 <30>)). Aus dem Recht auf ein faires Verfahren erwächst zunächst der Grundsatz der Waffengleichheit((vgl. Nowak, in: Heselhaus/Nowak, Handbuch der Europäischen Grundrechte, 2. Aufl. 2020, § 57 Rn. 27 ff.)). Parteien und Angeklagte müssen in dem gerichtlichen Verfahren angemessen und ausreichend Gelegenheit zur Stellungnahme haben und belastenden Vorwürfen zum Beispiel durch Beweisangebote entgegentreten können((vgl. EuGH, Urteil vom 28. Juni 2005, Dansk Rørindustri A/S u.a. gegen Kommission der Europäischen Gemeinschaften, C-189/02 P u.a., EU:C:2005:408, Rn. 71 f.; Urteil vom 6. November 2012, Europese Gemeenschap gegen Otis NV u.a., C-199/11, EU:C:2012:684, Rn. 71; Urteil vom 19. Dezember 2013, Siemens AG u.a. gegen Europäische Kommission, C-239/11 P u.a., EU:C:2013:866, Rn. 324 f.; Urteil vom 16. Februar 2017, H&R ChemPharm GmbH gegen Europäische Kommission, C-95/15 P, EU:C:2017:125, Rn. 45)). Des Weiteren ergibt sich daraus ein Anspruch auf rechtliches Gehör, der ebenfalls gewährleistet, dass Beteiligte eines gerichtlichen Verfahrens angehört werden und sich bezüglich belastender Beschwerdepunkte äußern können((vgl. EuGH, Urteil vom 13. Februar 1979, Hoffmann-La Roche & Co. AG gegen Kommission der Europäischen Gemeinschaften, C-85/76, EU:C:1979:36, Rn. 9; Urteil vom 10. April 2003, Joachim Steffensen, C-276/01, EU:C:2003:228, Rn. 77)). Das Gericht muss die Stellungnahmen zur Kenntnis nehmen und bei seiner Entscheidung – soweit urteilsrelevant – würdigen ((vgl. EuGH, Urteil vom 10. Dezember 1998, Aloys Schröder, Jan Thamann und Karl-Julius Thamann gegen Kommission der Europäischen Gemeinschaften, C-221/97 P, EU:C:1998:597, Rn. 24)). Die Beteiligten müssen die tatsächlichen und rechtlichen Umstände kennen, die für den Ausgang des Verfahrens entscheidungserheblich sind((vgl. EuGH, Urteil vom 21. Februar 2013, Banif Plus Bank Zrt gegen Csaba Csipai und Viktória Csipai, C-472/11, EU:C:2013:88, Rn. 30 f.)). Darüberhinausgehende Hinweispflichten fordert das Unionsrecht nicht.((BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 08. November 2022 - 2 BvR 2480/10)) Aus Art. 47 Abs. 2 GRCh leitet der Gerichtshof ferner das [[Recht auf eine angemessene Verfahrensdauer]] ab.((BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 08. November 2022 - 2 BvR 2480/10; m.V.a. EuGH, Urteil vom 17. Dezember 1998, Baustahlgewebe GmbH gegen Kommission der Europäischen Gemeinschaften, C-185/95 P, EU:C:1998:608, Rn. 20 f.)) Jede gerichtliche Entscheidung ist schließlich mit Gründen zu versehen, damit der Beklagte die Gründe seiner Verurteilung verstehen und gegen eine solche Entscheidung auf zweckdienliche und wirksame Weise Rechtsmittel einlegen kann.((BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 08. November 2022 - 2 BvR 2480/10; m.V.a. EuGH, Urteil vom 6. September 2012, Trade Agency Ltd gegen Seramico Investments Ltd, C-619/10, EU:C:2012:531, Rn. 53)) Mindestanforderungen an die Protokollierung von Gerichtsverhandlungen lassen sich nicht feststellen. Selbst nach den Verfahrensregelungen des Gerichtshofs ist nur die Abfassung eines Protokolls vorgesehen, ohne dass hierzu Details festgelegt wären.((BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 08. November 2022 - 2 BvR 2480/10; m.V.a. Art. 33 EuGH-Satzung)) Auch zahlreiche mitgliedstaatliche Verfassungsordnungen enthalten Anforderungen an das Gerichtsverfahren. Zu diesen gehören die Grundsätze der Fairness und der Waffengleichheit((vgl. Dogliani/Pinelli, in: v. Bogdandy/Huber, IPE I, 2007, § 5 Rn. 130 ; Nowak, in: Heselhaus/Nowak, Handbuch der Europäischen Grundrechte, 2. Aufl. 2020, § 55 Rn. 9 m.w.N.)). Häufig findet sich auch ein direkter Rückgriff auf Art. 6 Abs. 1 EMRK((vgl. Haguenau-Moizard, in: v. Bogdandy/Huber, IPE II, 2007, § 15 Rn. 45, 47 )), nicht zuletzt in Österreich, wo die Europäische Menschenrechtskonvention Verfassungsrang genießt((vgl. Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, 7. Aufl. 2021, § 3 Rn. 2; öBGBl 1964/59 )).((BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 08. November 2022 - 2 BvR 2480/10)) Diesen gemeineuropäischen Anforderungen hat die Ausgestaltung des Rechtsschutzes in zwischenstaatlichen Einrichtungen gemäß Art. 24 Abs. 1 GG Rechnung zu tragen. Um beurteilen zu können, ob diese auch mit Blick auf das Recht auf rechtliches Gehör und ein faires Verfahren den Mindeststandards eines wirkungsvollen Rechtsschutzes genügt, bedarf es einer Gesamtbetrachtung des Rechtsschutzsystems.((BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 08. November 2022 - 2 BvR 2480/10; m.V.a. EuGH, Urteil vom 15. Juli 2021, Europäische Kommission gegen Republik Polen, C-791/19, EU:C:2021:596, Rn. 110 ff.)) ===== siehe auch ===== -> [[Rechtsschutz]]