====== Technischer Charakter ====== Art. 52 (1) EPÜ -> [[Patentierbare Erfindungen]] \\ Art. 52 (2) EPÜ -> [[Nicht patentierbare Erfindungen]] \\ Art. 52 (3) EPÜ -> [[Beschränkung des Patentierungsausschlusses]] \\ -> [[Technik]] \\ -> [[Abkehr vom Beitragsansatz beim Patentierungsausschluss]] \\ -> [[Historie des Technizitätserfordernisses]] \\ -> [[Biologische Kräfte und Phänomene]] \\ -> [[Beispiele für fehlenden technischen Charakter]] \\ -> [[Technischer Beitrag]] \\ -> [[Technische Mittel]] \\ -> [[Technische Überlegungen]] \\ -> [[Technische Wirkung]] \\ Der technische Charakter einer Erfindung ist eine grundlegende Voraussetzung, die in Artikel 52 (1) [-> [[Patentierbare Erfindungen]]] der revidierten Fassung des EPÜ, EPÜ 2000 (Sonderausgabe Nr. 1 zum ABl. EPA 2003) als ausdrückliches Erfordernis formuliert ist.((Entscheidung vom 22. März 2006 - T 619/02)) Der Begriff "Erfindung" [Art. 51 (1) EPÜ -> [[Patentierbare Erfindungen]]] ist zu verstehen als "Gegenstand mit technischem Charakter" [-> [[Technischer Charakter]]].((T 931/95, ABl. 2001, 441; T 619/02, ABl. 2007, 63; T 258/03, ABl. 2004, 575)) Das im EPÜ verankerte Erfordernis des technischen Charakters kann nicht als erfüllt gelten, wenn eine beanspruchte Erfindung neben etwaigen technischen Ausführungsarten auch Ausführungsformen umfasst, die nicht als technisch zu bezeichnen sind.((Entscheidung vom 22. März 2006 - T 619/02 - Leitsatz)) Der technische Charakter einer Erfindung ist eine inhärente Eigenschaft, die nicht vom tatsächlichen Beitrag der Erfindung zum [[Stand der Technik]] abhängt. ((Entscheidung vom 22. März 2006 - T 619/02 - Leitsatz)) Es entspricht der europäischen Rechtstradition, dass der Patentschutz technischen Schöpfungen vorbehalten ist. In der Tat war immer unstreitig, dass Schöpfungen in den Bereichen der Technik nach dem EPÜ schutzfähig sind.((Rechtsprechung der Beschwerdekammern, I.A.1.1; m.V.a. T 22/85, ABl. 1990, 12; T 154/04, ABl. 2008, 46)) Die Verwendung des Begriffs "Erfindung" in Art. 52 (1) EPÜ 1973 in Verbindung mit den sogenannten "Ausschlussbestimmungen" des Art. 52 (2) und (3) EPÜ 1973 ist von den Beschwerdekammern so ausgelegt worden, dass er ein Erfordernis des technischen Charakters oder etwas Technisches impliziert, das durch eine beanspruchte Erfindung zu erfüllen ist, damit diese patentfähig ist.((Rechtsprechung der Beschwerdekammern, I.A.1.1; m.V.a. T 931/95, T 1173/97 und T 935/97)) Eine Erfindung kann eine Erfindung im Sinne des Art. 52 (1) EPÜ sein, wenn durch sie z. B. eine technische Wirkung erzielt wird oder technische Überlegungen erforderlich sind, um sie auszuführen. Bei der Anwendung des EPÜ wird der technische Charakter einer Erfindung durchweg als wesentliche Voraussetzung für ihre Patentierbarkeit anerkannt.((T 1173/97 (ABl. 1999, 609) und T 935/97 )) "nützlich" wird in einigen nationalen Patentrechtssystemen als Entsprechung zu dem in Art. 57 EPÜ 1973 enthaltenen Erfordernis der gewerblichen Anwendbarkeit verwendet((s. Anm. 5 zu Art. 27 (1) TRIPs)); diese spezielle Bedeutung des Begriffs verleiht auch nicht unbedingt technischen Charakter. Demnach sind Überlegungen zum nützlichen oder praktischen Charakter kein Ersatz und kein äquivalentes Kriterium für das im EPÜ verankerte Erfordernis des technischen Charakters. Auch wenn die gewerbliche Anwendbarkeit und der technische Charakter einer Erfindung eng miteinander zusammenhängen((T 854/90)), sind sie doch keine Synonyme, sondern zwei voneinander getrennte, nicht äquivalente Erfordernisse nach dem EPÜ 1973((T 953/94)).((Rechtsprechung der Beschwerdekammern, I.A.1.1)) Wurde der technische Charakter früher anhand des "[[Beitragsansatz|Beitragsansatzes]]" beurteilt, so hat die jüngere Rechtsprechung diesen zugunsten eines Ansatzes aufgegeben, bei dem das Erfordernis des technischen Charakters als ein von den übrigen Erfordernissen des Art. 52 (1) EPÜ 1973 - insbesondere von denen der Neuheit und der erfinderischen Tätigkeit - getrenntes und unabhängiges Erfordernis angesehen wird, dessen Erfüllung dementsprechend ohne Berücksichtigung des Stands der Technik beurteilt werden kann.((Rechtsprechung der Beschwerdekammern, I.A.1.2; m.V. T 1543/06)) Das im EPÜ verankerte Erfordernis des technischen Charakters kann nicht als erfüllt gelten, wenn eine Erfindung neben etwaigen technischen Ausführungsarten auch Ausführungsformen umfasst, die nicht als technisch zu bezeichnen sind.((T 619/02 (ABl. 2007, 63))) Der technische Charakter ergibt sich entweder aus den physischen Merkmalen eines Gegenstands oder (bei einem Verfahren) aus der Verwendung technischer Mittel.((T 258/03 (ABl. 2004, 575) )) Jeder Anspruch, der technische Mittel umfasst, entgeht dem Patentierungsverbot nach Art. 52 (2) EPÜ.((T 258/03 )) Da ein Anspruch, der auf ein Verfahren zum Betrieb eines Computers gerichtet ist, einen Computer umfasst, kann er nach Art. 52 (2) EPÜ nicht vom Patentschutz ausgeschlossen sein.((T 258/03; siehe auch G 3/08)) Durch den Einsatz technischer Mittel könne ein Verfahren für gedankliche Tätigkeiten ganz oder teilweise ohne menschliche Eingriffe durchgeführt werden und dadurch im Hinblick auf Art. 52 (3) EPÜ 1973 zu einem technischen Vorgang oder Verfahren werden, sodass eine Erfindung im Sinne des Art. 52 (1) EPÜ 1973 vorliegt. ((T 38/86, ABl. 1990, 384, T 769/92)) Verfahrensschritte, die in der Änderung einer Geschäftsidee bestünden und dazu dienten, eine technische Aufgabe zu umgehen, anstatt sie mit technischen Mitteln zu lösen, könnten jedoch nicht zum technischen Charakter des beanspruchten Gegenstands beitragen.((Rechtsprechung der Beschwerdekammern, I.A.1.4.3)) ==== Patentierungsverbot des Artikels 52 (2) EPÜ ==== Der zweite Absatz von Artikel 52 EPÜ [-> [[Nicht patentierbare Erfindungen]]] ist nichts weiter als eine nicht erschöpfende Negativliste dessen, was nicht als [[Erfindung]] im Sinne von Artikel 52 (1) EPÜ anzusehen ist.((Entscheidung der Technischen Beschwerdekammer 3.5.01 vom 15. November 2006 T 154/04)) Unter Berücksichtigung von Ziel und Zweck der [[Patentfähigkeit|Patentfähigkeitserfordernisse]] und der Rechtspraxis in den Vertragsstaaten des EPÜ haben die Beschwerdekammern den technischen Charakter der Erfindung als das allgemeine Kriterium angesehen, das in Artikel 52 Absätze 2 und 3 EPÜ [-> [[Patentierungsausschluß]]] enthalten ist.((Entscheidung der Technischen Beschwerdekammer 3.5.01 vom 15. November 2006 T 154/04; m.w.N.)) Der [[Beitragsansatz]] wird bei der Beurteilung des [[Nicht patentierbare Erfindungen|Patentierungsausschlusses]] nach Artikel 52 (2) EPÜ nicht mehr angewendet. -> [[Abkehr vom Beitragsansatz beim Patentierungsausschluss]] \\ Eine Einschränkung des generellen Anspruchs auf Patentschutz ist keine Frage des richterlichen Ermessens, sondern bedarf einer eindeutigen Rechtsgrundlage im Europäischen Patentübereinkommen.((Entscheidung der Technischen Beschwerdekammer 3.5.01 vom 15. November 2006 T 154/04)) Es bleibt weiterhin Rechtssprechung und Amtspraxis überlassen, festzustellen, ob ein als Erfindung beanspruchter Gegenstand technischen Charakter aufweist, und den Erfindungsbegriff im Lichte der technischen Entwicklung und dem jeweiligen Erkenntnisstand entsprechend sachgerecht weiter zu entwickeln.((Entscheidung der Technischen Beschwerdekammer 3.5.01 vom 15. November 2006 T 154/04)) ==== Einschränkung des Patentierungsverbots durch Artikels 52 (3) EPÜ ==== Das Patentierungsverbot des Artikels 52 (2) EPÜ durch die Beanspruchung beliebiger technischer Mittel überwunden werden kann.((Entscheidung der Großen Beschwerdekammer vom 9. Dezember 2010 G 2/07 unter Verweis auf die ständige Rechtsprechung)) Um [[Patentierbare Erfindungen|patentfähig]] zu sein, muss der beanspruchte Gegenstand "technischen Charakter" aufweisen oder – etwas präziser umschrieben – eine "Lehre zum technischen Handeln" zum Gegenstand haben, d. h. eine an den Fachmann gerichtete Anweisung, eine bestimmte technische Aufgabe mit bestimmten technischen Mitteln zu lösen.((Technischen Beschwerdekammer 3.5.01 vom 15. November 2006 T 154/04)) [-> [[Technischer Beitrag]]] Hat ein Produkt, Verfahren o. ä. technischen Charakter, so unterliegt es auch dann nicht dem [[Patentierungsausschluss|Patentierbarkeitsausschluss]] gemäß Artikel 52 Absätze 2 und 3 EPÜ, wenn es sich formal auf einen der in Absatz 2 aufgezählten Gegenstände bezieht.((Entscheidung der Technischen Beschwerdekammer 3.5.01 vom 15. November 2006 T 154/04)) Kommt eine an und für sich nicht "technische" Methode, z. B. eine mathematische Methode, in einem technischen Verfahren zum Einsatz, das mit Hilfe von technischen Mitteln zur Ausführung der Methode auf eine physikalische Erscheinung angewandt wird und bei dieser eine Veränderung hervorruft, so trägt diese Methode zum technischen Charakter der Erfindung als Ganzes bei.((T 1814/07)) Jeder beanspruchte Gegenstand, der technische Mittel definiert oder einsetzt, ist eine Erfindung im Sinne des Art. 52 (1) EPÜ.((siehe T 424/03 und T 258/03, bestätigt in G 3/08)) Aus diesem Grund verleiht die bloße Aufnahme eines Computers, eines Computernetzwerks, eines lesbaren Mediums mit einem Programm usw. in einen Anspruch dem beanspruchten Gegenstand technischen Charakter.((Rechtsprechung der Beschwerdekammern, I.A.1.4.1)) Wie nachstehend ausgeführt, können Merkmale des Computerprogramms selbst (s. T 1173/97) oder das Vorhandensein einer im Anspruch definierten Vorrichtung dem beanspruchten Gegenstand unter Umständen technischen Charakter verleihen (s. T 769/92, ABl. 1995, 525; T 424/03 und T 258/03). ==== Gesamtbetrachtung ==== Bei der Prüfung auf Patentfähigkeit einer Erfindung in Bezug auf einen Anspruch sind die technischen Merkmale der Erfindung, d. h. die Merkmale, die zum technischen Charakter der Erfindung beitragen, durch Auslegung des Anspruchs zu bestimmen.((Entscheidung der Technischen Beschwerdekammer 3.5.01 vom 15. November 2006 T 154/04)) Die Beschwerdekammern des EPA wenden eine ganzheitliche Sicht an, indem sie ein Computerprogramm für patentfähig erachtet haben, wenn es als Ganzes betrachtet einen technischen Beitrag zum Stand der Technik liefert.((z. B. Entsch. v. 14.2.1989 - T 38/86, ABl. EPA 1990, 384 - Textverarbeitung; v. 29.4.1992 - T 164/92, ABl. EPA 1995, 305 - Elektronische Rechenbausteine); hiervon ist in den Entscheidungen vom 1.7.1998 (T 1173/97, ABl. EPA 1999, 609 Computerprogrammprodukt) und vom 4.2.1999 (T 935/97, [1999] R.P.C. 861 - Computer program product II)) Es ist zulässig, dass ein Anspruch eine Mischung aus technischen und "nichttechnischen" Merkmalen aufweist, wobei die nichttechnischen Merkmale sogar den bestimmenden Teil des beanspruchten Gegenstands bilden können. Neuheit und erfinderische Tätigkeit können jedoch nur auf technische Merkmale gestützt werden, die somit im Anspruch deutlich definiert sein müssen. Nichttechnische Merkmale, die nicht mit dem technischen Gegenstand des Anspruchs zur Lösung einer technischen Aufgabe zusammenwirken, d. h. nichttechnische Merkmale "als solche", leisten keinen technischen Beitrag zum Stand der Technik und werden daher bei der Beurteilung von Neuheit und erfinderischer Tätigkeit nicht berücksichtigt.((Entscheidung der Technischen Beschwerdekammer 3.5.01 vom 15. November 2006 T 154/04)) Tatsächlich kann ein nichttechnisches Merkmal mit technischen Elementen so zusammenwirken, dass eine technische Wirkung entsteht, etwa durch seine Anwendung zur technischen Lösung einer technischen Aufgabe.((Entscheidung der Technischen Beschwerdekammer 3.5.01 vom 15. November 2006 T 154/04; m.w.N.)) Bei einer Erfindung, die aus einer Mischung technischer und nichttechnischer Merkmale besteht und als Ganzes technischen Charakter aufweist, sind in bezug auf die Beurteilung des Erfordernisses der erfinderischen Tätigkeit alle Merkmale zu berücksichtigen, die zu diesem technischen Charakter beitragen, wohingegen Merkmale, die keinen solchen Beitrag leisten, das Vorliegen erfinderischer Tätigkeit nicht stützen können.((T 641/00 - Comvik)) Ein Verfahren das ausdrücklicher menschlicher Eingriffe bedarf kann nicht allein aus diesem Grund der technische Charakter abgesprochen werden.((Entscheidung vom 22. März 2006 - T 619/02; m.V.a. T 38/86, ABl. EPA 1990, 384, Nr. 12 der Entscheidungsgründe)) Es hängt generell vom jeweiligen Kontext ab, ob eine Information als technisch anzusehen ist.((Entscheidung vom 22. März 2006 - T 619/02; m.V.a. T 1177/97, Nr. 3 der Entscheidungsgründe)) Ist in der beanspruchten Erfindung überhaupt kein technischer Aspekt festzustellen, so kann der Erfindung insgesamt kein technischer Charakter zugesprochen werden.((Entscheidung vom 22. März 2006 - T 619/02; m.V.a. Entscheidung T 931/95 und Entscheidung T 258/03)) ===== siehe auch ===== Art. 53 EPÜ -> [[Ausnahmen von der Patentierbarkeit]] \\